Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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Sokrates: … so daß ich im allgemeinen sagen möchte, die Gestalt sei die Grenze des Körpers. (Platon, Menon)

Sive, das hieß Tai Chi können!

Der langgestreckte Übungsraum gliederte sich an seiner breiten Front durch zwei Fenster und eine Tür, uns unsererseits zur Gliederung unserer unbeholfenen Bewegungen anhaltend. Sie gingen auf den Hof mit der exotischen Haselnuß und der Buddelkiste hinaus und wurden durch den sogenannten Sommereingang getrennt, der an den warmen Abenden offen stand und die laue Luft und das abendliche Vogelgezwitscher hereinließ und durch den manchmal Kinder schauten und uns beobachteten – um dann mit gellendem Geschrei davonzulaufen, so als wären sie entwischt, im letzten Augenblick entkommen. Die Fensterfront wurde durch die Spiegelwand auf der gegenüberliegenden Seite zurückgeworfen und der kahle Raum, der mit seinen gemauerten Wänden beinahe ein Keller war, entgrenzt, bis in den letzten Winkel gestaltet, rundum zivilisiert und in die von kleinen Strahlern erhellte, heitere Welt verwandelt, in der wir uns holprig und stolprig bewegten.

Nicht bis in den allerletzten Winkel gestaltet; denn während die tote Stirnseite in voller, freilich schmal gehaltener Breite ein chinesisches Drachenbild in spirituellem Blaßblau zierte, das mit seinen zu mageren Schlangen sublimierten Drachen das an eine andere Körperlichkeit gewöhnte europäische Gemüt verwirren (und schon deshalb in den spekulativen Gedanken treiben) konnte, war auf der gegenüberliegenden Seite, in deren Richtung uns, wenn wir uns mit dem Gesicht zu den Fenstern aufgestellt hatten, die Form trieb, nichts als die Wand. Gegen sie rannten wir an, vor ihrem stummen Antlitz verneigten wir uns, sie vergeblich um Hilfe anflehend, um ein beruhigendes Zeichen, daß wir noch im Takt waren. Sie begrenzte uns und verhinderte, daß wir ausuferten, stießen wir doch gegen sie, wenn wir uns verschätzt hatten, weigerte sich nachzugeben, obwohl wir, im Bann der Form, auch nicht nachgeben konnten, und so scheuerten wir uns wund an ihr, so wie wir uns an ihrer Stummheit aufrieben. In Augenblicken größter Verlassenheit war sie uns Feind und Zuflucht zugleich. An ihr hätten wir liebend gern das heiße Gesicht gekühlt und uns mit Feuereifer den Kopf gestoßen und die Birne zerschmettert – cogné! –, wenn die andern hinter uns verschwunden waren und uns nichts aufrecht hielt als, aus weiter Ferne, von unter dem Drachenbild, die bösen Augen des Lehrers, und damit die Spannung ein Ende gehabt hätte und in einem herrlichen Schlag und Ton zersprang: Peng!

Wenn wir Glück hatten, lief S. das erste Mal die Form mit und teilte großzügig mit uns seinen Rhythmus, das innere Maß, das alle seine Bewegungen gliederte, und das Bewußtsein um den Sinn des Ganzen, das wir ihm voller Vertrauen unterstellten. Immer häufiger allerdings hatten wir Pech und mußten schon beim ersten Mal allein laufen. Prompt verhedderten wir uns zwischen den kompakten Leibern der andern, ihren sturen Bewegungen, und den Fragmenten unseres eigenen Körpers, der klobig und unbeseelt angefangen hatte und sich mit jedem Schritt mehr zerlegte, uns vom Regen in die Traufe befördernd. An schlechten Tagen kam es mir vor, als ließe ich überall ein Stück von ihm zurück: hier die Hüfte, da eine zappelige Hand, und wie oft schien es mir unmöglich, den Fuß nach vorn zu bringen oder ihn auf den harten Boden zu senken, er stand in der Luft und wollte sich nicht absetzen lassen! Dabei ging es nicht um große Entfernungen, bewegten wir uns doch kaum, obwohl, verglichen mit dem Lehrer, immer noch zu sehr, und das war auch der Grund, warum wir Verluste hinnehmen mußten. Denn was über die unsichtbaren Grenzen hinausragte, das stürzte in den Orkus. Wie eine Schnecke ihr Haus, so führte der Lehrer seinen Körper mit sich, durch alle Bilder, und ließ nichts von ihm zurück. Nach jedem Schritt sammelte er die verstreuten Glieder wieder ein, ließ das Gesäß unter seinem Rücken, die Glieder unter seinem Gesäß verschwinden und in einer Drehung neu entstehen. Er ließ nie Geschaffenes an Geschaffenes anknüpfen und sich verdünnen. Er fabrizierte die Kugel und wohnte darin, aber er klebte nicht an den Wänden.

Überhaupt ging er mit seinen Gliedmaßen sorgsam um. Er schleuderte sie nicht von sich, sich darauf verlassend, daß sie an seinem Oberkörper befestigt waren und zurückschnellen würden. Er »schlenkerte und schwenkerte« sie nicht, sondern führte sie bewußt eng, ließ sie sozusagen bei Fuß gehen, das unterschied ihn von den Affen, die die Arme bis zum Anschlag ausrenkten, und von den Dickhäutern. Nichts baumelte bei ihm, alles wurde an der kurzen Leine geführt, nicht dem Zufall überlassen, ob das Gelenk riß oder hielt. Was halten sollte, hielt sich gefälligst selbst. Manipulationen kamen nicht vor, nur eine Neubesinnung auf den ursprünglichen Ort der Bewegung fand statt, den Ort, wo sie entsprang, auf die Quelle. Wenn die Körperdrehung sagen wir vier Fünftel einer Armbewegung ausmachte, dann waren zwar die Zentrifugalkräfte gewaltig, aber die beweglichen Teile in keinem Augenblick gefährdet; denn die Kraft übertrug sich nur gerade so weit, daß der Arm die Drehung der Hüfte vollendete, die überschüssige Kraft lief zurück, kein Bruchteil zuviel wurde verbraucht. Unbeirrt produzierte der Korpus mehr Energie, als er an die Extremitäten abzugeben gedachte, arbeitete er an der Verfertigung seiner als Kraftwerk, als Energiezentrale. Er imponierte mit seiner Weigerung, die erzeugte Kraft zu verwerten, und ließ eine Spannung entstehen, die sich in die nie beantwortete Frage zurückübersetzen ließ: was aus ihr folgen würde. Aber es folgte gar nichts. Der Körper resorbierte die Kraft, und sie hörte »im Innern auf zu sein«.

Wir dagegen schickten die Beine los, fuhren die Arme aus, bewegten uns überhaupt wie Truppen in fremdem Land: die Kommandozentrale schwerfällig, aber selbstbewußt, die leichten Truppen beweglich, aber fahrig und inkompetent.

Wir lehnten uns nach hinten, wenn wir nach vorn treten wollten, hievten den Hintern über das vorausgeschickte Bein wie über einen Berg und ließen ihn auf der andern Seite ins Tal fallen. Wir hoben statt der Arme die Schultern und ließen, anstatt den Bauch zu drehen, die Schulterblätter rotieren. Wir stießen mit dem Kopf nach vorn, wo wir bloß das Gewicht zu verlagern brauchten, hoben ihn zu den Händen empor, mit langem Blick, sie dergestalt auf Augenhöhe bringend, wie die Anweisung lautete.

Kurz, wir machten alles falsch.

Manchmal kam es mir vor, als wäre ich einen Schritt vorangekommen. Ich hatte meine Gliedmaßen im Griff, konnte mich auf meine Muskeln verlassen. Ich hatte die Basis verbreitert und konnte anfangen die Form zu gestalten. Ich traute mir Interpretationen zu, eine eigene Note!

Wie ein Buddha hockte S. in seiner Ecke und gab sich keine Mühe, so zu tun, als wenn er sich interessierte. Ich entspannte mich: S. sah weg, auch wenn er herschaute! In echt schläft S., sagte ich mir und stand gleich breiter auf meinen Füßen und fühlte mich den andern überlegen, die davon überzeugt waren, daß er ständig auf sie achtgab, und sich zugleich aufgehoben und schikaniert fühlten, auf eine religiöse Art verfolgt.

Ich wandte mich der Kraftquelle in meinem Bauch zu, ihrem lustigen Sprudeln, dem Flämmchen unter dem Sonnengeflecht, seinem lustigen Flackern. Alle haben so ein Flämmchen, sagte ich mir, warum nicht ich? S. schlief, und ich würde die Form laufen. Ich würde sie wie er laufen. So wie wenn er sie laufen würde!

Sive.

Über meinen Kung-Fu-Freund hatte man mir erzählt, daß er einen eigenen Stil pflegte. Er war mein Freund, und ich wußte nicht, daß er einen Stil hatte, aber er hatte einen festen Platz in meinem Herzen, und ich war überzeugt, daß sein Stil hervorragend war. Man ahmte ihn bereits nach, hatte ich gehört. Ich wollte S. nachahmen.

E. faßt Tai Chi wie S. auf, sollte es heißen.

E. wie S.

Sive.

»Auffassen«, das war mehr als »ausüben«. Es war eine Interpretation. Ohne Interpretation keine Kunst.

So war das.

Aber sive, das war auch der Kannibalismus des Verschlingens – tant pis für den Verschlungenen.

Wenn es klappte und ich die Form perfekt lief – tant pis!

Aber es klappte natürlich nicht.

Träge erhob S. sich von seinem Stühlchen. Hievte die ausgestreckten Beine vom Nachbarhocker und stand auf.

Die Hände auf die Knie gestützt, stemmte er sich in die Höhe und tappte mit gesenktem Kopf zu uns herüber, nach den Traumfetzen angelnd, den Fehlern, von denen er nicht absehen konnte, nicht einmal im Schlaf. Schlurfte mit weichen oder steifen Knien zwischen uns hindurch, die wir uns möglichst unsichtbar zu machen suchten, die Miene ratlos oder unheilverkündend, oder vielmehr letzteres, weil ersteres der Fall war, nur das wußten wir damals nicht. Tatsächlich suchte er wohl nach einem Anknüpfungspunkt für seine Erinnerungen, nach der richtigen Verbindung zwischen Fehlern und Tätern. Betäubt, noch wie im Schlaf, das Gesicht vom Dösen kindlich gerundet, von der mechanisch aufgenommenen Suche, der inneren Odyssee durch die Windungen der langen Form noch zusätzlich benommen, zugleich bereits im Zustand scharfer Konzentration, war er fest entschlossen, dem, was er für seine Aufgabe hielt, nachzukommen und eine geldwerte Leistung zu erbringen, nämlich seine Schüler, die ihn bezahlten, zu korrigieren.

Ihm war gar nicht klar, womit er uns beschenkte. Mit den Gedanken bei unserer Darbietung, mit dem Körper noch auf seinem Stühlchen, war er längst ins Tai Chi verfallen – wir, in seiner Furcht und mit uns selbst beschäftigt, glaubten stets, wir hätten den Übergang verpaßt, aber es gab keinen. Sich aus dem Büroschlaf aufrappelnd, auf unsicheren Beinen, die Knie eingeschlafen, verfiel er ins Tai Chi. Das unterschied ihn von uns, oder uns von ihm: Übergangslos fiel er ins Tai Chi, wir dagegen mußten erst Person werden, um uns den Anforderungen des Tai Chi stellen zu können. So kam im besten Fall Flickwerk zustande, denn der Verstand blieb die Basis der Unternehmung. Punktförmige Anläufe, der eine mal mehr, der andere weniger geglückt, war das Resultat, von gesponnenem Faden keine Spur. Wenn S. dagegen ins Tai Chi verfiel, dann war es nicht nur unmöglich zu entscheiden, ob ihn sein Körper oder sein Kopf leitete, es entstand eine neue Person, die war anders zusammengesetzt als die alte.

Wenn S. ins Tai Chi fiel, dann floh der Verstand aus seinem Kopf und breitete sich im Körper aus, löste ihn auf, so daß er Energie werden konnte, zirkulierende Kraft (man sah den Verstand nicht, Gott sei Dank, aber irgendwas vibrierte). Unter dem Ansturm des Verstandes wäre der Körper wohl einfach verschwunden, hätte die Bewegung ihn nicht stabilisiert beziehungsweise jenen nicht aufgefangen. So wechselte er bloß die Form. Der abgesetzte – man konnte auch sagen aufgesetzte – Kopf aber bekam etwas Instabiles, Erhabenes. Kerzengerade, in tadelloser Haltung, wenn auch, da ihn nichts mehr hielt, seltsam detachiert, folgte er dem Geschehen von oben, mit erstauntem Blick, folgte vor allem den Händen, und war, alles andere als der Beweger, im Grunde nur die zum Blick materialisierte Perspektive, der Fluchtpunkt, der aus dem Zusammenspiel sagen wir von Hüfte und Händen errechnet werden konnte.

Wenn der Abend voranschritt, wurde es im Übungsraum stiller. Die Schüler verstummten. Wer um acht kam, war müder, als wer um sechs kam; die Arbeit nagte an ihm, das Zuhause lockte. Wer ums sechs gekommen war, war in der Regel schon gegangen, und wenn nicht, dann hatte ihn Tai Chi, die sanfte Kunst, niedergerungen, und er bewegte sich nur noch mechanisch. Auch das größte Plappermäulchen hielt den Mund oder konnte jedenfalls nicht mehr plaudern und gleichzeitig üben.

Auch die große Form hatte sich reduziert, wir nagten an Bruchstücken. Durch die Arbeit im kleinen war der Raum größer geworden. Er war entschieden heller geworden. Die schlangenartigen Drachen auf dem chinesischen Bild waren lebendiger geworden. Wir alle waren kleiner und einsamer geworden, durch das Kunstlicht, das mit fortschreitender Nacht ins Sublime, Theatralische spielte, schöner.

Nur S. war auf eigentümliche Weise realer geworden; real oder normal. Um die vorgerückte Stunde hatte er alle geborgte Größe, die aggressive Laune ebenso wie die Hinfälligkeit abgelegt. Je weiter der Raum wurde, desto näher faßte er Tai Chi ins Auge. Und je vereinzelter er in seiner Tätigkeit erschien – denn wir standen meist nur noch schüchtern, müde oder bewundernd um ihn herum –, desto mehr nahm er vom Tai Chi Einzelnes, hier eine Drehung, da eine Verlagerung zur Kenntnis. Alles rein Geometrische, auch das im erhabenen Sinn Clowneske, Kasperlehafte hatte sich verloren. Der Kopf war wieder Kopf, schon über die Stimme identifizierbar, die unsere Aufmerksamkeit, gemütlich kommentierend, lenkte; sein Körper unregelmäßig, asymmetrisch, mit echtem Nabel und unverkennbar einem Bauch.

Ganz schön verletzlich, fand ich, schien er aber gar nicht zu finden.

Er hatte seine ideale Gestalt aufgegeben und war real geworden, ein Mensch ohne übertragene Bedeutung, ohne Symbolgehalt. Ein Meister.

Für Minuten – und es waren regelmäßig die über der Zeit – schoben sich S. und S. übereinander, wurden eine Person: S., der Tai Chi konnte, und S., der schlecht und recht lebte, ein vollständiger Mensch, den man mögen durfte, aber nicht begehren mußte, weil man sich selbst mochte und nicht an Fremdem andocken mußte. Wer weiß, vielleicht war ja auch ich in einer mir freilich restlos entzogenen Hinsicht ein vollständiger Mensch.


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