Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(16) E. erzählt

Ich muß zugeben, ich verhedderte mich bei den Mädchen. Das fing schon damit an, daß es mir nicht gelang, sie zusammenzusehen. Ich sah sie einzeln, jede für sich, und hätte auch nie von den Mädchen geredet. Ich warf mir vor, daß sie für mich lediglich die wären, die übrigblieben, wenn ich die Jungen abzog; die bildeten eine Einheit, und der Rest zerfiel, oder ich bildete ihn, indem ich die Jungen herausnahm.

Dabei konnte nicht die Rede davon sein, daß sie den Rest bildeten. Wie ausgestreute Sternchen verteilten sie sich im Raum. Solitäre waren sie allzumal, Kratzbürsten, eckige Einzelgängerinnen, selbst wenn sie als Pärchen auftraten, mit der besten Freundin, und einen Riegel bildeten, eine echte Sperre für meinen ängstlichen Blick; isolierte die Zweiheit sie doch von der Vielheit und erhöhte die Einsamkeit der doppelpoligen Gestirne in ihrer splendid isolation, ihr düsteres Strahlen. Die Jungen bildeten dagegen einen Haufen, sie wärmten sich und entzündeten sich einer am andern, daß die Flamme übersprang und der Gedanke zum nächsten hüpfte und das Denken sich in Lust verwandelte und die Lust in Gedanken. Ihre Gesichter strahlten, und darin glichen sie sich. Sie waren schön, und darin waren sie einander ähnlich. Das heißt, sie waren alle schön, das verband sie. Dabei waren sie sich überhaupt nicht ähnlich oder nach dem gleichen Muster gestrickt, wenn sie auch nicht dieselbe abgrundtiefe Individualität wie die Mädchen besaßen, diese bodenlose Einsamkeit, in die ich mich wie in ein Spiegelbild meiner selbst vertiefen und in der ich mich verlieren konnte; die sie, weit über die nivellierende Verwandtschaft mit mir hinaus, zu finsteren, alterslosen Schönheiten machte, jede einzelne für sich, zu einer Königin der Nacht, zu Mondschönheiten, während die Gesichter der Jungen im hellsten Sonnenlicht erstrahlten, die Gesichter der Knaben.

Sie variierten ein Thema, das Thema »Knaben« und das Thema »Schönheit« und das Thema »Jugend« – die Mädchen in ihrem unergründlichen Ernst dachten gar nicht daran, irgend etwas zu variieren. Im Zusehen verwandelte ich mich in einen Sokrates, einen triefäugigen Greis, und hielt es für die natürlichste Sache von der Welt, daß ich ihnen immer und in allem nachgab und mich nie über sie erboste; denn wie sonst sollte man sich verhalten, wenn man selbst alt und weise war, und die Jugend war nun einmal jung und schön? Das war doch die eigentlich philosophische Einstellung, daß man sich den Tatsachen beugte, und für wen hätte die Jugend eine Tatsache sein sollen, wenn nicht für das Alter? Wer selbst jung war, war jung. Wie sollte er sich dessen erfreuen? Wie sollte er es überhaupt bemerken?

Auch mancher Alte bemerkte es übrigens nicht, selbst wenn er überzeugt war, daß er nichts anderes im Kopf hatte. Er konnte die eine Tatsache nicht von den anderen Tatsachen abscheiden – er rannte der Jugend nach und wollte selbst jung sein, oder er rannte ihr nach und wollte sie haben, war aber nicht imstande, sie zu würdigen, geschweige denn sie zu genießen.

Um sie zu würdigen, hätte er nicht nur über eine gewisse Reizbarkeit verfügen müssen, sondern auch über ein gehöriges Quantum an Resignation. Das heißt, er hätte zugleich resigniert und nicht resigniert sein müssen. Resigniert noch dazu im doppelten Sinn; hätte er doch nicht nur die eigene, sondern auch noch ihre, der Jungen, traurige Exklusion gewahren müssen, die Zufälligkeit und Fremdheit zwischen ihnen und ihrer eigenen Schönheit, ihre eigene Unfertigkeit (man denke nur an Pausbacken und gepolsterte Haut, an glatte Nacktärschigkeit), die zwar den eigentlichen Liebreiz bilden sollte, aber doch nur zum Verbrauch einlud, so als gäbe die Vergänglichkeit ein Recht dazu und als ließen die losen Besitzverhältnisse, der zarte Riß zwischen den Jungen und ihrer Jugend auf das Recht der beliebigen Aneignung schließen.

Nicht resigniert aber in bezug auf das Kapitel »ewige Jugend«. Aus der Zufälligkeit und Vergänglichkeit jeglichen Bezugs zu ihr hätte er den wahrhaft philosophischen Schluß auf ihre nur desto größere Eigenständigkeit ziehen, ja eine regelrechte Aura der Unberührbarkeit an ihr gewahren müssen, so daß er sich gefragt hätte: Warum habe ich sie nicht schon früher bemerkt? (Aber da war er eben noch nicht zum Philosophen geworden.) Er hätte in der Kapitulation auch die einzig ethische Haltung erkennen müssen, ehrte er damit doch nicht nur die Schönheit, sondern ebenso die sorglosen Schönen, und sich, den aufgeregten Verehrer. Rührung belohnte ihn, zeigte ihm an, daß er den dritten Weg gefunden hatte.

Ich sagte mir, als Philosoph bin ich ein Profi im Unterscheiden. Von dem, was ich bin, kann ich abtrennen, was ich nicht bin. Und was ich habe, kann ich abtrennen von dem, was ein anderer hat. Ich bin der Stoa verpflichtet, sagen wir einer gewissen Askese. Ich muß nicht alles sein, und ich muß nicht alles haben. Im Gegenteil, damit ich philosophieren kann, muß es das andere geben, nur es kann mich über alle Maßen interessieren, so daß ich ihm nachlaufe und es begehre. Dabei bin ich mir nie ganz sicher, was ich eigentlich will: es haben (und die bleiben, die ich bin) oder es sein (und ein anderer werden); so wie ich auch nie weiß, ob ich nicht immer nur mir selbst nachlaufe (und allem, was ich nicht bin, liefe ich dann eben nicht nach). In echt mache ich all diese Unterschiede natürlich nicht, mir geht ja alles durcheinander, oder ich mache sie zwar, aber ich verbinde die falschen Enden. Der Furor des Wollens ist nicht gebändigt, aber die Zielstrebigkeit gebrochen und das Ziel in Sicherheit gebracht; und dies nur weil ich Philosoph bin und für das Nicht eine Antenne habe und vor der falschen Entscheidung zurückschrecke und ihr die erfolglose Suche nach der richtigen vorziehe.

In Wahrheit liebte ich sie nicht – ich liebte sie maßlos! –, sondern ließ mich von ihnen lieben. Ich ließ mich von ihnen führen; vertrauensselig, lachend, blind ließ ich mich in die unmöglichsten Diskussionen hineinziehen. Ich kannte die Regeln nicht, aber ich befolgte sie unbesorgt; wenigstens waren es nicht die lüsternen Erwachsenenregeln, die mit Anspielungen und Strategien operierten, mit halbherziger Vermeidung und drakonischer Strafe. Die erwachsene Logik blieb aus dem Spiel, der unerbittliche Schluß: vom Teil aufs Ganze, vom bloß Angedeuteten aufs Gemeinte, von der Probe auf den bitteren Ernst, vom Unechten aufs Echte; sowie das ewige Folgern, das nicht Ruhe gab, bis alles Rudimentäre sich entwickelt, seinen Endpunkt und seine Bestimmung, seine Wahrheit und seine Zukunft, seine Teleologie und seine Verdammnis gefunden hatte. Wir waren kein Teil von einem Ganzen, sondern ein Teil (so wie man sagt, ich für mein Teil, was soviel heißt wie: ich); ein Anfang, ja, aber von keinem Ende, sagen wir ein Aufbruch; eine Idee, aber kein Gedanke, oder kein Gedanke, aber eine herrliche, kühne Idee. Wir waren vollendete Unfertige, verspielt, voller Liebreiz, behaupte ich mal kühn, in unserer Anspruchslosigkeit; da war kein Scheinwerfer weit und breit, den man auf uns hätte richten können, keine Kamera, kein Mikrophon, nichts, was auch nur entfernt an ein Aufnahmegerät erinnerte. Wir appellierten an niemanden, und wir bezogen uns auf nichts; umso rigoroser aufeinander. Zwar bekamen wir durchaus mit, daß etwas sich auf uns bezog, waren wir doch längst einbezogen in unsern Stoff, in unsere altertümliche Lektüre, nichts als Figürchen in einem Spiel, dem wir nicht die Regeln gegeben hatten, nach dessen Regeln wir vielmehr spielten. Aber als echten Spielern war uns das kein Problem – wenn wir mitspielen durften, was sollten wir uns über das Spiel erregen –, und wenn es ein ganz klein wenig unheimlich wurde, nun gut, da mußten wir durch.

Ohne diese Unheimlichkeit, die dem Blick von außen geschuldet war, der Angst, man könnte bei der heillosesten Fremdbestimmung ertappt werden – »Was machen die denn da?« –, in der größtmöglichen Entfernung von sich selbst, war eben kein Spiel zu haben.

Trotzdem hätten wir uns wundern können, daß wir keine Fehler machten. Am Anfang waren uns schon welche unterlaufen, und das Spiel war ins Stocken gekommen. Später waren uns dann keine mehr passiert, auf eigentümliche Weise war uns die Fähigkeit dazu abhanden gekommen; so als wäre es, einmal auf dem richtigen Pfad, unmöglich gewesen, davon abzuweichen oder, breit, wie er war, danebenzutreten. Das Thema war verfänglich genug. Aber kein Scherz geriet uns unangemessen grob, kein Vergleich zu direkt, kein Lachen ordinär. Von niemandem wurden die heiklen Vokabeln konsequenter und höflicher ausgesprochen als von uns, entsprangen sie doch der Sorge um uns selbst, so wie wir es brav gelernt hatten, nicht der Rücksicht auf die Moral. Wir waren zur Unschuld verdonnert, zur Vollkommenheit, zur Fehlerlosigkeit. Manchmal erinnerte ich mich beinahe sehnsüchtig der Zeiten, als ich noch Fehler machen konnte, verantwortungslose Träume hegte, da das Begehren an mir klebte wie das Namensschild am Kaufhausangestellten; als es mich noch etikettierte.

Wir waren Spieler und wunderten uns nicht, litten allenfalls ein bißchen, mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie der sündhafte Teil von uns, der fehlbare Teil sich beschwerte, auf Überforderung verwies und für eine Pause plädierte.

Wir waren das Spiel, und da machte man keine Fehler.

Es trug einen der aristokratischsten Namen der Weltliteratur. »Das Gastmahl« hieß es, in der edlen neuen Übersetzung: »Das Trinkgelage«. Wir waren entschlossen, die Neuerungen fortzusetzen, betranken uns nicht, und beschränkten die Völlerei auf das Vertilgen von Pausenbroten, teils über, teils unter der Bank, auf Tee aus der Thermoskanne; denn ohne ein Verflüssigungsmittel blieb auch der beseelteste Gedanke zäh, klebte am Gaumen. Unsere Ausschweifungen beschränkten sich auf die Herstellung eines erotischen Klimas zur Unzeit, montags morgens, so zwischen acht und halb zehn, wenn noch die Wangen rund waren und sich der Abdruck vom Kopfkissen auf ihnen abzeichnete und der Schlafdreck in den Augenwinkeln nach einem scharfen Fingernagel verlangte; wenn noch kein anderer Anspruch an uns herangetreten war als der, aufzustehen, und wir ihm nur bedingt Folge geleistet und unser Bett gewissermaßen mitgebracht hatten – wenn wir uns begrüßten, lachten wir uns an wie Gäste in der Jugendherberge, wenn sie sich auf dem Weg zum Klo treffen, im Schlafanzug natürlich.

Einmal kratzte ich tatsächlich einen Frühstücksrest von einer Backe, weil der mich intrigierte und ich immer draufgucken mußte. Ich erhob mich, ging um mein Pult herum und trat zu Yannick, der an diesem Tag Geburtstag hatte.

Jetzt küßt sie ihn, sagte Rick laut, mit Vollzugsstimme, in dem Tonfall, der den Tatsachen vorbehalten ist, dem Unabänderlichen.

Einen Moment schwankte ich, ob ich der Stimme folgen sollte. Dann gab der Frühstücksrest nach, und Yannicks Gesicht war wiederhergestellt.

Herzliche Glückwünsche, sagte ich, und alle lachten.

Unser Gelage fand auch nicht in den reich ausgestatteten Räumen eines Privatmannes, sondern im Klassenraum statt. Sein Schmuck war die Tafel, seine Aura der Schulgeruch, der unübertreffliche Klassenmief, diese charakteristische Mischung aus Totem und Lebendigem, aus Reinigungsmitteln, ungelüfteten Farbanstrichen und Schülerschweiß, vermischt mit dem nie aussterbenden Geschmack von Leberwurstbrot.

Es war unser Raum, und unser Gelage fand statt – wie gesagt unter dem skeptischen Blick der Mädchen, deren Skepsis freilich nie in Widerwillen umschlug, gar in Ablehnung, und das war schon merkwürdig und beschwichtigte das Schuldgefühl, das mich beflügelte und verfolgte; es ernüchterte mich zugleich. So weit konnte es mit den Ausschweifungen nicht her sein, wenn sogar die Mädchen sie mit einem Lächeln quittierten. Überhaupt lasen sie in uns wie in einem Buch, so kam es mir vor. Unser Spiel, wie existentiell es sich uns darstellte und wie sehr es uns die Wangen erhitzen mochte, erschien ihnen doch reichlich papieren.

Wir sind die Knaben, sangen die Knaben, und ihre Augen leuchteten wie Murmeln aus Achat; unversehens kam mir eine modernere Lektüre dazwischen. Um sie hing der Schleier antiker Lüste, sie taten freilich, als wäre da überhaupt kein Dunst, nichts Angelesenes zumal, als gäbe es nur ihre ureigenen, reinen Begierden, die berühmten unter Laborbedingungen. Von denen leuchteten ihre Gesichter wie von blanken Fliesen zurückgespiegelt, so daß die vergrübelten Mienen der Alten sich aufhellten und sie den erloschenen Blick zu ihnen aufheben mußten; gegen die Jugend war eben kein Kraut gewachsen. Es fehlte nicht viel, und die Knaben hätten sich, verzaubert durch die Zeitreise, an den Händen gefaßt. Prototypen waren sie, wie die Helden der Kinderliteratur, wie nur irgendeine künstliche Figur.

Sie konnten sich totlachen, wenn ich den Stuhl gleich zu Beginn der Stunde von ihnen wegrückte, aus dem Schatten des breiten Pults heraus in die schutzlose Einsamkeit des Weltraums, den tapferen Sternchen, den mahnenden Solitären entgegen; nicht um von ihnen beschützt zu werden – da sie das Spiel nicht mitspielten, kam das nicht in Frage –, nur an ihrer Tapferkeit teilzuhaben. Dabei stand ich fernab, à mille milles auf meinem Stühlchen verloren, noch unter dem Einfluß der Knaben und war, von ihnen gewissermaßen plaziert, nichts als der Endpunkt jener Strahlen, die sie, die Sonnenfingrigen, gerade eben bis zu mir schickten, und die Auszeichnung stand mir nicht zu.

Falls ich aber selbst leuchtete, wie mir gelegentlich zugetragen wurde, dann war es nur der Abglanz des Scheins, der auf ihren Gesichtern lag. Einen Schein zu werfen, von innen heraus zu glänzen durfte ich für mich nicht in Anspruch nehmen.

Wenn die Lebensfreude der Knaben gleich zu Anfang überschäumte, rückte ich also mit meinem Stühlchen von ihnen weg, den Mädchen entgegen, zog mich in die Einsamkeit des Universums, schob mich Richtung Tafel, schob mich zur Tür zurück, während die Knaben das Lehrerpult belagerten. Montags, wenn wir – schlaftrunken, Kopfkissen und Teddy gewissermaßen noch unter dem Arm, den Abdruck der Fingerknöchel im geröteten Gesicht, die Augen verschwiemelt –, alle zu unterschiedlichster Zeit, Gott sei's geklagt, zum Unterricht erschienen, kam das nur im Ausnahmefall vor. Es geschah vor allem dienstags, zur Unzeit, in der Mittagstunde, wenn sie nach ihrer vormittäglichen Odyssee durch alle Fachgebiete und über alle Schulstockwerke bei mir landeten, zum »Gelage«.

Ihr seid mir echt zuviel, sagte ich mit jener unverhohlenen Abneigung, die der lauteren Liebe entspringt und die nichts anderes bedeutete, als daß ich in ihrem Netz zappelte. Verwirrt, manchmal verheult war ich angetreten – gerade wenn der Tag schon alt und reichlich Gelegenheit zu weinen gewesen war, aber im Tagesgesicht des Erwachsenen sah man die Spuren nicht so. Manchmal weinte ich auf dem Weg von der U-Bahn bis kurz vor der Tür, war in meinen Halluzinationen S. doch soeben um die Ecke gebogen, die geraden Schultern verläßlich, ein komfortabler Schutz; ich fühlte mich eskortiert. Die Eindrücke hatten sich vollständig verkehrt, und ich fühlte mich nie so verlassen, wie wenn er mich in meiner Vorstellung begleitete. (Blieben die Bilder aus, hatte ich nichts zu weinen.)

Noch vor dem Schulgebäude sah ich mich – mit Goethe zu reden – von den liebenswürdigsten Gestalten umringt und in ein nicht endenwollendes Grüßen, Erkundigen und Erzählen verstrickt. Ich vergaß, die Tränen abzuwischen, und kehrte in die Wirklichkeit zurück.

Ihr seid mir echt zuviel, sagte ich oben im Klassenraum zu den Jungen und rückte von ihnen weg.

Sie machten Miene nachzurücken.

Weichet von mir, sagte ich und spreizte die Finger – aus der Entfernung klang ihr Lachen unirdisch, wie das von Engeln. Ich wurde kleiner und einsamer; noch ein Ruck mit dem Stuhl, und ich kippte aus dem dualen System, kippte aus dem Universum hinaus, und dann, ciao, ihr alten Philosophen, Wahrheit und Altersliebe, ciao!

In der Antike, fing ich an, gelten Liebe und Erotik als Baustein der Persönlichkeit. Mit Bedacht gelebt, so Foucault, können sie wesentlich dazu beitragen, daß man eine Persönlichkeit bekommt. Lebt man sie dagegen zügellos aus, bekommt man, dies die einzige Drohung, vielleicht keine.

In der Sexualität, fuhr ich fort, sieht das Christentum vor allem eine Gefahr. Je weniger gefestigt die Persönlichkeit ist, umso gefährdeter ist sie. Und je mehr sie damit zu tun hat, desto weniger stabil wird sie.

Ich räusperte mich, denn durch diese Adresse fühlte ich mich persönlich beschädigt, war ich doch unter dem Damoklesschwert der ewigen Verdammnis aufgewachsen und hatte mich nicht so recht davon erholt.

Wodurch bildet sie sich dann? fragte Rick. Wenn sie durch Sex lediglich bedroht wird, schloß er messerscharf, kann sie sich durch den Umgang damit ja nicht bilden.

Im Kampf um das Gute, sagte ich. Oder sagen wir: gegen das Böse in uns. Da bekommt auch die Sexualität wieder einen Sinn. Im Kampf gegen den Trieb, sagt die christliche Morallehre, erstarkt die Persönlichkeit.

Und bei den Griechen? fragte Ilona konsterniert. Wie war das bei denen? Worin bestand noch der Unterschied?

Im Grunde nur darin, daß es kein Kampf ist und daß er ohne Angst geführt wird, sagte ich; wie Foucault sagt, mit Achtsamkeit und Sorge. Wobei wir darunter weniger Sorge als Sorgfalt zu verstehen haben, weniger Kummer als vielmehr ein beständiges, unängstliches Kümmern.

Man darf auch mal etwas falsch machen, faßte Ilona zusammen (wer sie nicht kannte, hätte meinen können: fürs Protokoll). Über die Stränge schlagen, ohne sich hinterher schämen zu müssen, kann man es so ausdrücken? Ohne daß man sagen muß: Das war's jetzt. Ist es so gemeint?

Dann gibt es also keinen Verlust der Unschuld, sagte Hannah, aus ihren Träumen erwachend.

Weil es keine Schuld gibt, sagte Ilona, stimmt's?

Und kein Trauma, schloß Rick messerscharf. Vielleicht macht man eine unangenehme Erfahrung. Aber man kriegt keinen Schock. Man ist nicht traumatisiert. Man kann über das Erlebte nachdenken und sich darüber austauschen.

Ich nickte.

Man kann versuchen, es beim nächsten Mal besser zu machen: der Gefahr aus dem Weg gehen, die Versuchung meiden, überhaupt, sich zurückhalten. Kurz, man kann üben, was der beste Beweis dafür ist, daß man weder stigmatisiert noch traumatisiert ist; sonst würde ja das Unheil immer größer. Auch daß man sich nicht versündigen kann. Prinzipiell steht man, sobald Sexualität ins Spiel kommt, nicht vor einem Abgrund; wie man es heute ausdrücken würde, man ist in Verbindung.

Ich mußte lachen, weil ich den Begriff erst vor kurzem gehört und mich gehörig über ihn gewundert hatte.

Das heißt, weder bin ich mir entfremdet, noch ist sie mir fremd; so ähnlich, denke ich.

Ich stockte. Es war die lautere Wahrheit, aber es war nicht alles. Ein Versäumnis der letzten Stunden holte mich ein. Es handelte sich um die Gewalt in der Liebe. Nicht um die exzessive, überschüssige Gewalt, die zum Verbrechen führt, sondern um die unvermeidliche der Penetration, des »oben« und »unten«, nicht um Mord, also, sondern um Demütigung. Sex war traumatisch, Gewalt wenn nicht konstitutiv, so doch strukturell, nicht einfach bloß ein Zeichen schlechten Gebrauchs. Ich hatte das verschwiegen, weil es sich nicht vertrug: mit der Schule, dem Schutz der kids, auch ihrer verspielten Laune, ihrer übermütigen Lachlust nicht; es war einfach nicht kompatibel. Von der unvermeidlichen Gewalt in der Liebe zu reden, wo die Liebe selbst noch keine Erfahrung darstellte, hätte einen Hiat bedeutet, einen Riß; so etwas wie einen Sprung in die Praxis – oder aber in eine zweite Theorie. Es wäre gewissermaßen ein Verstoß gegen die Schulordnung gewesen.

Warum hatte ich ausgerechnet auf Foucault gesetzt, der aus der Praxis heraus schrieb, aus einer Motivation, die für die Jugendlichen nicht in Frage kam? Warum hatte ich mich von der antiken Kulisse täuschen lassen!

Ich spürte bereits, wie die eigentümliche Orientierungslosigkeit sich in mir ausbreitete, die die Folge des Verschweigens ist.

Dabei wußte ich genau, warum ich mich auf Foucault eingelassen hatte: weil ihm als einzigem an einem nichttraumatischen Umgang mit Sexualität gelegen war und weil ich genau das den kids hatte vermitteln wollen.

Ein Hiat kommt nicht in Frage, sagte ich mir. Aber die Kinder können denken, und sie sind nicht aus Zucker.

Ich ließ den Stuhl Stuhl sein und kehrte in den Schoß der Knaben zurück, lehnte mich vorsichtig ans Pult.

Mit der Erotik in der Antike ist es folgendermaßen, sagte ich.

Sie hält es nicht ohne uns aus, murmelte Yannick zu Aris und Rick hin, die an der Längsseite saßen; oder murmelte Rick es zu Yannick? Aris nickte, als wollte er sagen, hab ich doch gewußt.

Nicht eine Minute hielt ich es ohne sie aus.

Bei den Griechen, sagte ich, gibt es zwar so gut wie kein Verbot. Aber nur wenig von dem, was nicht verboten ist, ist auch angezeigt. Oder niemand käme auf die Idee, aus einem »nicht verboten« ein »angezeigt« zu machen oder aus einem »erlaubt« ein »empfohlen«. Aber nicht weil der Betreffende so außerordentlich klug und bedachtsam ist; wie wäre er das denn geworden, frage ich euch. Sondern weil der Gegenstand des bedachtsamen Umgangs gefährlich ist: kompromittierend und kompliziert.

Und warum? fragte Ilona.

Es ist ein breiterer Gegenstand als für uns. Bezogen auf den einzelnen ist er breiter, enthält er doch die Beziehung unter Gleichen und die unter Verschiedenen. Wobei beide Begriffe jeweils doppelt gefaßt sind, im Sinne der Gleichrangigkeit und der Gleichheit des Geschlechts, so daß sich jeweils vier Möglichkeiten ergeben, und die sind nicht leicht zu handhaben und zu sortieren. So muß etwa die ungleiche Beziehung zu Ehefrau und Sklavin ausgeglichen, und die zum gleichen Geschlecht – dieser Inbegriff der Gleichheit –, muß ausgekämpft und ausgehalten werden.

Stellt euch vor: Ihr bewerbt euch um das höchste Staatsamt in Athen, und bei eurem Anblick denkt dieser und jener und noch ein dritter immer nur an das eine!

Würde euch das eigentlich gefallen, wenn ihr euch ständig fragen müßtet, tut es mir gut, oder täte ich es besser nicht?

Im Grunde ist es doch so, sagte Ilona. Alles ist erlaubt. Wir müssen uns selbst überlegen, was wir wollen.

Schon, als ich noch kleiner war, sagte meine Mutter immer: Ich verbiete dir nichts, sagte Hannah.

Na ja, murmelte Aris.

Es hat genervt, sagte Hannah, es klang wie eine Drohung. Jedenfalls war es stressig. Heute habe ich öfter das Gefühl, daß ich zu nichts komme, weil ich mich ständig frage, was tut mir eigentlich gut.

Es klingelte; so schnell wie sie begonnen hatte, war die Stunde zu Ende.

Vielleicht erwarten wir heute auch einfach zuviel, sagte ich schnell. Daß uns etwas guttut: darunter stellen wir uns wer weiß was vor. Ich glaube, die Griechen waren schon froh, wenn es nicht allzusehr schadete.

Der nächste Kurs drängte schon in den Raum.

Was findet hier eigentlich statt, fragte einer, der die letzte Bemerkung aufgeschnappt hatte.

Philosophie, sagte Ilona. Das heißt: wir denken gemeinsam.

Ich dachte, übersetzt heißt es Liebe zur Weisheit, mischte sich einer von den Nachfolgenden ein.

Es heißt Liebe zum Leben, erklärte Yannick lachend.

Ich hielt mich raus.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
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