Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(17) E. erzählt

Der Frühling zog strahlend ins Land, leerte den Übungsraum. Kinder lugten durch die Sommertür, die ein halbes Jahrhundert verschlossen gewesen war, schraken vor der Leere, vor dem eigenen Gesicht im fernen Spiegel zurück. Ganz Mutige warfen eine Handvoll Sand hinein auf den blanken Boden und versteckten sich schreiend.

Die Koordinaten verschoben sich. Die Topographie meiner Liebe blieb dieselbe. Das Leben spielte sich zwischen Schule, Übungsraum und Volkshochschule ab, im horizontal gespannten Netz verfing sich die Geschichte: es ging nicht vorwärts, aber es ging auch nicht vorüber. Geduldig marschierte ich am Spielfeldrand entlang, umrundete Ecke um Ecke, kam nicht auf »Los«, und manchmal landete ich direkt im Gefängnis.

Die Uhr wurde vorgestellt. Der Abend wurde länger. Er wurde heller. Wir wurden älter. Auf dem Weg zur U-Bahn konnten wir einander jetzt ins Gesicht sehen. Wir wurden ehrlicher. Wir wurden derber, die Worte gröber. Die Frage blieb dieselbe: Was willst du eigentlich von mir? und: Wieviel hältst du aus? Jeder tastete nach dem Handgelenk des andern, suchte den Puls: Bist du ein Mensch, oder bist du nur ein Gerede?

Das Feld verschob sich, aber die Koordinaten blieben dieselben.

Ich zog um – na und? Dann spannte sich das Feld ein wenig anders. Die Triade blieb: Volkshochschule, Übungsraum und Schule. Nur der vierte Zipfel zog das Feld ein wenig enger. Ich wohnte jetzt näher an der Turnhalle und konnte zu Fuß nach Haus gehen. Vor den Lichtsäulen des Einkaufszentrums, an der U-Bahn, trennte sich unser Weg. »Grün!« rief ich und spurtete los, machte einen Satz über die Ampel und sah mich in der Dunkelheit verschwinden.

Ich stieg den Neuköllner Berg hinauf; blickte er mir nach? Ich schwankte einen Augenblick, ob er mit mir den Berg hinauf- oder ich mit ihm die U-Bahntreppe hinuntergehen sollte. Die Angestellte aus Pankow begleitete ihn, die mit dem unbestechlichen Realitätssinn, einer gehörigen Portion Urteilskraft und der richtigen Dosis Resignation, dabei einem zähen Zielbewußtsein im kleinen, das davon zeugte, daß die Resignation sich auf die Bedürfnisse ausgewirkt hatte, nicht auf das Wollen. Mir imponierte das als Weltklugheit, dabei war auch sie unglücklich. Sie paßte in sein Schema, und ich hatte sie ganz gern. Sie erinnerte mich an die Volkschule, wo die Kinder sich nach der Konfession, noch nicht nach Intelligenz und sozialer Herkunft sortierten und ich mich jeden Tag in Frage gestellt sah und einen Platz zugewiesen bekam. Der war nicht toll, aber ungleich verläßlicher als der, den ich dem Respekt meiner Lehrerin, dem guten Ruf meiner Eltern verdankte.

Ich war schon fast auf dem Berg angekommen, da stieg ich in Gedanken immer noch die Treppe zur U-Bahn hinunter. Er war bei mir, begleitete mich die Straße hinauf, ging neben mir her, in diesem détachement, dieser unvergleichlichen Trotzhaltung, die die Unverbrüchlichkeit der Beziehung ebenso wie ihre unabänderliche Nichtexistenz symbolisierte – ich spürte seine Schultern und seinen geradewegs ins Finstere gerichteten Blick.

Warum war er mitgekommen; ich wußte es genau, ich schaffte es nicht, meine Gedanken von ihm zu lösen. Sobald ich allein war, redete er mit mir. Stumm kletterte ich den Berg hinauf, aber er redete und redete.

Wollte er mir etwas sagen, etwas klarmachen? Auf mir herumhacken? – Er hatte in letzter Zeit die Neigung dazu.

Oder wollte er sich an meinem kindischen Unglück weiden?

Wollte er mir etwas abtrotzen? – Daß ich ihn liebte, zum Beispiel, wo er mir gerade klargemacht hatte, daß das keineswegs auf Gegenseitigkeit beruhte, aber hören wollte er es doch.

Wollte er mich bloßstellen?

Oder sollte ich zugeben, daß ich etwas verbrochen hatte – ihm nicht richtig zugehört, mich für schlauer gehalten als er, mich als unsensibel erwiesen? Daß ich ihn nicht verstand, sollte ich das zugeben? Daß ich noch nicht einmal angefangen hatte, ihn zu verstehen, mir aber jede Menge auf meine Empathie einbildete, auf mein feinsinniges, pädagogisches Verständnis? Oder daß meine Liebe wertlos war, ein aus Verblendung und billiger Romantik aufgebauschtes Nichts, unrealistisch, um ein Lieblingswort von ihm zu verwenden, der pure Streß noch für ihn, der geliebt wurde; denn er mußte mich ja in Schach halten und bekam nichts dafür, ich sah es allmählich ganz genauso wie er.

Alles gab ich zu, während ich, an angekokelten Matratzen, umgestürzten Einkaufswagen und dampfendem Hundekot vorbei, den Berg hinaufstieg.

Ich betrat mein kleines Zimmer mit dem gewaltigen Ausblick auf den Friedhof und atmete frei. Ich, die lieber umkommen als sich mit dem Schlechten zufriedengeben wollte, war angekommen.

Er hätte gern gewollt, daß ich wieder umzog; ganz unverbindlich, natürlich, für mich, nicht für ihn. Aus freiem Willen war ich hierher gezogen, und nun sollte ich aus freiem Willen wieder wegziehen. Er hielt es für unnatürlich, mit der Wahl eines miserablen Umfelds den Niedergang der eigenen Person zu dokumentieren. Für ihn war die Umgebung dazu bestimmt, einen Menschen zu halten, wenn nicht zu heben; ging er trotzdem unter, dann hatte es nicht geholfen. Jedenfalls geschah es nicht mit Pauken und Trompeten, eher im Modus des Verkriechens, und wenn doch, dann als heroische Einzeltat, nicht in heuchlerischer Übereinstimmung mit sich und den andern, mit denen man in Wahrheit nichts zu tun haben wollte. Daß man eine Chance darin gewahren konnte, nicht besser dran zu sein als sie, das leuchtete ihm nicht nur nicht ein, es war ihm unbegreiflich. Er fand es krank. Den Bezug zwischen Einkommen und Wohnung respektierte er, aber im umgekehrten Sinn, den allgemeinen Gepflogenheiten entsprechend. Man nistete sich nicht beim Pöbel ein, man lebte nicht freiwillig in der Gosse. Sich über diese Regel hinwegzusetzen fand er bürgerlich, es war snobistisch. Angehörige einer anderen Klasse hätten das nie gemacht, und hatte ich nicht angedeutet, daß die Nachbarn sich über die neue Mieterin sagen wir – wunderten? Er bekam auch mit, daß ich bei Kleidungsstücken empfindlich war. Leicht geriet etwas in den Verdacht, »eine Nummer zu groß« zu sein, preislich, stofflich, überhaupt. Manches T-Shirt sah verdammt nach Kindermoden aus. Damit er nicht auf mir lastete, mußte der Mantel ein Mäntelchen sein, und selbst dann warf er noch Falten, und die Kapuze konnte als Heiligenschein durchgehen. Sogar die Kampfhunde auf dem Sasarsteig übersahen mich; so erklärte ich mir wenigstens, daß sie nichts taten.

S. schüttelte nur den Kopf.

Er wandte Psychologie an, aber er hatte keine Lust auf psychologische Erklärungen. Frauen forderten sie heraus, sie baten förmlich darum. Aber die Mühe wurde einem schlecht vergolten. Im Gegenteil, Probleme waren Vorzüge, sie zu haben ein Verdienst; wenn man mit ihnen traktiert wurde, so sollte man das als Auszeichnung auffassen. Aber wenn man selbst ein Problem hatte, dann waren sie beleidigt. Wenn es zum Beispiel etwas zu verzeihen gab, dachten sie gar nicht daran, es zu tun; dabei hätten sie das ebenfalls als Auszeichnung auffassen können. Er war – aufgrund schlechter Erfahrungen, wie er geheimnisvoll sagte –dazu gekommen, niemandem zu helfen und sich von niemandem etwas verzeihen zu lassen; kurz sich nicht mehr zu engagieren, es führte zu nichts. Mit mir würde er die Reihe der Ausnahmen nicht beginnen; genauer gesagt, die Ausnahmen, die er ständig machte, nicht beenden wollen; er hatte da so einen Verdacht, was meine Absichten anging. Zuerst wollten immer alle nur eine gute Erfahrung sein, und dann wurden sie, ohne mit der Wimper zu zucken, eine schlechte; er schüttelte sich, hinterher baute er sich immer ein Trauma zusammen. Umgekehrt verbat er es sich, mit Problemen behelligt zu werden, deren Mitteilung nur dazu diente, ihn einzufangen. Er verweigerte einfach das Mitdenken, sagte er; so hörte das Erzählen von allein auf. Aber wäre ich nicht gerade dorthin hingezogen, wo ich wohnte, er hätte er mich vielleicht besucht. Andere Leute besuchte er auch, aber die wohnten nicht in Neukölln. Oder wenn sie in Neukölln wohnten, das kam durchaus vor, dann war es kein Offenbarungseid, sie zu besuchen!

Ich konnte nur lachen. Er besuchte mich nie, und von dem einen Mal wollen wir lieber nicht reden.

Nicht einen Augenblick dachte ich ernsthaft an Umziehen.

In hitzigen Debatten mit meiner Freundin vertrat ich die These, daß es immer vorwärtsgehen mußte – man mußte immer vorwärtsgehen. Meine These begründete ich mit nichts Geringerem als dem Tod. Da wir stetig älter wurden, behauptete ich, war Bewegung nicht nur die Gangart, die uns mit uns in Harmonie brachte, wir hatten es auch kolossal eilig; schließlich wollten wir ankommen. Kurz gesagt, wenn der Tod uns erreichte, mußten auch wir ihn erreicht haben; sonst gab es ein unbehagliches Gefühl. Die Zeit, mit ihm gleichauf zu kommen, wurde aber immer knapper.

Je näher wir ihm kommen, sagte ich, desto schwerer können wir ihn einholen.

Sie lachte auf ihre Art, explosiv und unbehaglich. Sie mochte das Paradox, aber das Thema nicht.

In Wahrheit war natürlich alles ganz anders. Der Tod war zwar das Ende der Bewegung, nicht aber ihr Ziel. Da er vorher nicht da war, konnte er kein Ziel sein, es sei denn, man ließ ihn mit dem Altern beginnen. Das ergab einen harmonischen Bewegungsablauf, einen runden Auftrag mit deutlicher Zielvorstellung, war aber unsauber gedacht, so als wäre der Tod bloß eine Unterabteilung der Bewegung. Prompt wucherten die schönen Bilder, die vom Anhalten und Ausrollen und so weiter; wer anders drauf war, dem wurde bange dabei. Von der eigenen Schubkraft erdrückt, starb er seinen ganz persönlichen Angsttod, er, der doch am allgemeinen Tod teilhaben wollte. Dabei erlebte er die falsche Verbindung als unterschiedliche Gangart – sozusagen als Bruch zwischen dem Eigenen und dem Allgemeinen – und sich selbst in höchst unpassender Eile, so als hätte er das Ende am liebsten hinter sich gebracht, während die andern es in Ruhe abwarten konnten; als wäre er scharf auf den Tod, kurz gesagt, während sie ein freundliches Bündnis mit dem Leben pflegten. Aber das hatte ich damals noch nicht klar, ich wollte mich nur über meine Freundin aufregen. Etwas an ihr störte mich. Sie war doch auch eine von den Eiligen. Sich fügen paßte wenig zu ihr. Aber mir kam es vor, als steckte sie den Kopf in den Sand oder senkte reuig das Haupt; ich fand, sie wehrte sich nicht. Sie hätte schreien müssen; bestimmt war ihr danach. Aber sie schrie nicht.

Wir alterten nun mal, beharrte ich. Da biß keine Maus einen Faden von ab.

Sie lachte. Das erlebte sie tagtäglich am eigenen Leib.

Du predigst Resignation? wunderte sie sich.

Im Gegenteil, wir müssen uns sputen. Mit dem Tod um die Wette rennen: wer kommt als erster an, wir, um ihn oder er, um uns in Empfang zu nehmen? Die Reste der Trägheit beseitigen, die in uns steckt – verstehst du, Chrissie, alles an uns ausrotten, was sich nicht bewegt!

Ich mußte selbst lachen. Das Pathos kannte ich an mir, aber woher nahm ich den missionarischen Eifer?

Sich sträuben ist altern, sagte ich aufs Geratewohl.

Jetzt versteh ich gar nichts mehr, sagte sie.

Du mußt die Pfeiler umhauen, auf denen dein Leben ruht, erklärte ich ihr, die ohne Stützen ausgekommen war, ein Leben lang, und sich übrigens jetzt zum ersten Mal dazu durchgerungen hatte, etwas zu errichten, ein Häuschen, zum Beispiel, ein kleines Lebensgefüge.

Ich meine die Gedankenkrücken, setzte ich ungeduldig hinzu, die Lieblingsgedanken, auf die man immer wieder zurückkommt, die man aber nicht antasten mag; woran man also denkt und nicht denkt.

Ich bin mir sicher, sagte ich direkt, je beweglicher du äußerlich geworden bist, je weniger du dich an Dinge gekettet hast, desto starrer ist dein Denken geworden. Kennst du überhaupt noch den Unterschied zwischen Gedanken und Überzeugungen?

Du hast Verzicht geübt, räumte ich ein; ihr Lebensentwurf war ohne Beispiel. Aber du hast dich nicht geändert. Nicht im Interesse der Vergänglichkeit, sondern im Interesse der Ewigkeit hast du auf die beständigen Werte verzichtet; nicht mit Rücksicht auf den Tod, sondern auf die Zukunft. Ein unbeschriebenes Blatt wolltest du bleiben, nicht dich Zeichen um Zeichen beschreiben lassen. Etwas recht Deutliches, etwas Spektakuläres sollte noch auf dir geschrieben werden können.

Ich fühlte mich blaß werden: redete ich von mir? Seit Jahren hatte ich mich nicht so ereifert.

Vorwärts ist rückwärts, sagte ich. Mann, Chrissie, wir müssen Hand an uns legen, und zwar energisch. Wir müssen uns aufribbeln wie einen alten Pullover, wie eine Häkelarbeit: die festen Maschen sind nicht länger unser Modell – was wir brauchen, sind doppelte und dreifache Stäbchen!

Sie sah mich traurig an, betrübt weniger über die Haltlosigkeit ihrer Freundin als vielmehr über das Leben. Was blieb von ihm übrig? Ich hätte gewünscht, daß sie mir Einhalt gebot: Such nicht das mittlere Allgemeine von uns beiden. Daß sie mich in meine Schranken wies: Wenn du von mir reden willst, dann denk daran, daß man das Leben eines anderen nicht beurteilen soll. Redest du aber von dir, dann tu es gefälligst bestimmter. Auf was für Krücken bewegst du dich? Wie steht es zum Beispiel mit deinen Wiedergebrauchsstories von Seligkeit und Glück, die dich auf deinen Wegen begleiten, deinen Schritt beflügeln, dich in den Schlaf wiegen?

Das sind Lebenskrücken, murrte ich, Überlebenskrücken, keine Gedankenkrücken.

Es sind Krücken, beharrte sie.

Na und, sagte ich störrisch. Es sind einfach Halluzinationen. Sie helfen mir, am Leben zu bleiben. Ich gebrauche und verbrauche sie. Das ist alles, und es bleibt kein Rest. Nichts Metaphysisches und auch nichts Ideologisches.

Etwas bleibt immer, beharrte sie schlicht.

Na gut, räumte ich ein, sie tun mir nicht gut, okay, ich geb's zu. Aber sie enthalten keinen Begriff und kein Urteil, kein »So ist es«, nichts was einen andern kränken könnte. Sie sind peinlich und lächerlich, okay, meinetwegen auch schockierend, wenn zum Beispiel jemand ungewollt Zeuge wird und sich mit der Tatsache, ich will sagen der Existenz von Halluzinationen abfinden muß. Aber sie sind ohne Fernwirkung und Bosheit.

Von der »Bosheit des Urteils« hatte ich gerade gelesen und mir die Formulierung zu Herzen genommen.

Halluzinieren ist wie essen oder trinken, sagte ich. Im Übermaß führt es zur Verfettung, aber man schadet niemand ernstlich damit. Man tut nur das, was alle tun, bringt sich tapfer über die Runden und dabei sachte ins Grab.

Halluzinieren ist wie leben, sagte ich.

Oder wie lieben, setzte ich hinzu und wurde wahrhaftig rot.

Es zerstört die Urteilsfähigkeit, sagte Chrissie fein, aber entschieden.

In Wirklichkeit sagte sie natürlich gar nichts, verkrampfte sich vielmehr unter dem Ansturm meines Missionseifers. Wenn man so will, hielt sie sich noch gerader als sonst, also ging ich ihr auf die Nerven. Aber wie stets wahrte sie Haltung oder rechnete sogar sich die Schuld zu. Ich hätte gewünscht, daß sie explodiert wäre. Im Zuge der sich unvermeidlich anschließenden Auseinandersetzung wäre nicht nur aller Schmutz und alle Verbitterung nach oben gespült worden, es wäre auch alles zur Sprache gekommen, was ich vor ihr geheimhielt, und sie hätte mir meine Lebenskrücken so weggeschlagen, wie ich ihr ihre Gedankenkrücken weggeschlagen hatte. Ich wäre ärmer gewesen, aber vor ihr hätte ich vollständiger dagestanden. Ich hätte eine armselige Figur abgegeben, aber ich hätte vollständiger dagestanden. Bestimmt hätte ich aufhören können zu missionieren.

Vielleicht hätte sie sich sogar interessiert gezeigt, und ich hätte ihr eine meiner Wiedergebrauchsstories erzählen können – ich errötete bei dem puren Gedanken! Sie ging unwillkürlich davon aus, daß sie dem gleichen Strickmuster folgten wie ihre, in denen sie nach einem ausgeklügelten, immer neu zu variierenden System ihre Feinde vernichtete.

Nee, Chrissie, sagte ich und mußte lachen, so absurd fand ich die Idee. Meine Geschichten gehen ganz anders.

Sie hütete sich zu fragen, wie gehen sie denn, denn dann hätte ich mit Sicherheit gesagt, das kann ich nicht erzählen. Da sie aber nichts sagte, war ich schon halb beim Erzählen und schämte mich zugleich.

Meine Halluzinationen gehören zu meinen Schattenseiten, sagte ich fest. Zum neuen Jahr habe ich mir vorgenommen, zu ihnen zu stehen.

Heißt das, daß du sie erzählen kannst oder daß du an ihnen festhalten willst? fragte Chrissie. (Aber das fragte sie natürlich nicht; sie mischte sich nie in anderer Leute Leben.)

Mir wäre lieber gewesen, sie hätte mich direkt nach ihnen gefragt, das hätte mir Gelegenheit gegeben, zu ihnen zu stehen, und ich freute mich auch auf ihr erstauntes Gesicht. Denn mit meinen Schattenseiten war es sämtlich so bestellt, daß man sie mir nicht ansah (glaubte ich). Hätte sie mich nach ihnen gefragt, ich hätte den Kopf gesenkt.

Sex, hätte ich verschämt gesagt, und Chrissie hätte auf ihre explosive Art gelacht und die sommersprossigen Haare in den Nacken geworfen:

Sex und Halluzinationen, da wirft ja das eine einen Schatten auf das andere!

Aber das alles sagten wir natürlich nicht. Die Szene wurde nicht zur Aufführung gebracht.

Wirf die Krücken weg, kam ich statt dessen auf den Anfang zurück.

Es sind meine Prinzipien, sagte sie schlicht. Ich habe sie mir erkämpft, ich habe sie mir reiflich überlegt. Und ich habe nichts außer ihnen.

Sie wirkte zufrieden, so als wäre das ein tragender Grund.

Sie mögen herrlich sein, sagte ich, als Prinzipien sind sie schlecht.

Es sind ganz wenige, sagte sie, als könnte sie mich so eher für sie gewinnen. Ich kann sie an einer Hand abzählen.

Na, dann schieß los, sagte ich.

Die Rechte der Frau, und daß man dafür kämpfen muß, fing sie an.

Falsch, sagte ich.

Mißbrauch ist das Schlimmste, fuhr sie fort.

Wenn man's tut oder wenn's einem angetan wird? fragte ich höhnisch.

Sie sah mich von weit her an.

Selbst wenn sie richtig wären, beharrte ich, Chrissie, es sind Prinzipien! Gib ihnen ihren Erzählcharakter, ihren Erfahrungscharakter, ihren Erlebnischarakter zurück! Ich meine ja nicht: Wie ich einmal mißbraucht wurde und so fort. Erkenne sie als Tatsachen an, und verfahre mit ihnen, wie man mit Tatsachen verfährt: nimm sie hin!

Frauen werden unterdrückt, Kinder mißbraucht, echote ich. Komm, Chrissie, mach kein Drama daraus!

Alles Feste muß verflüssigt werden, sagte ich. Auch die Prinzipien. Die zuallererst.

Darüber muß ich in Ruhe nachdenken, sagte sie fest.

Die Sonne war über der Nuntiatur untergegangen, und der Himmel über der Hasenheide leuchtete. Zeit, heimzugehen, Neukölln zu beglücken. Ich hatte eine Freundschaft geschändet und nichts dazugewonnen. Zwar hatte ich bloß meine Gedanken mitgeteilt. Aber unterwegs hatten sie eine andere Gestalt angenommen, alles Unfertige, alles Vorläufige und Vorbehaltliche abgelegt, auch alles Lächerliche und Rührende, waren fester und härter geworden, hatten sozusagen gebellt; sie hatten Chrissie angebellt, so wie ein Hund hinter dem Zaun den Passanten anbellt.

Ach, Chrissie, sagte ich, warum hörst du mir überhaupt zu?

Weil das bei Unterhaltungen so üblich ist, sagte sie lächelnd, aber ihre Augen lächelten nicht mit. Sie wirkte müde und angestrengt, versteinert. Dabei war sie die lebendigste Frau auf der Welt.

Ich hasse Unterhaltungen, Chrissie, sagte ich; warum können wir nicht ein Stündchen miteinander verbringen, ohne uns zu unterhalten?

Wir könnten etwas zusammen unternehmen, schlug sie vor.

Ich erschrak.

Etwas unternehmen? Ein neues Feld erschließen, mit ganz neuen Koordinaten? Was würde aus meinem Feld werden? Es existierte ja nur dank der unermüdlichen Sorge, die ich für es trug. Wenn ich es im Stich ließ, würde es aufhören zu existieren.

So war das mit meinem Feld. Schon jetzt war es mitunter gar nicht existent.

Eine Sekunde erlebte ich, wie ich einfach einen Ausflug machte. Mit Chrissie ins Grüne fuhr. Mich mit Chrissie im Grünen amüsierte.

Lieber keinen Ausflug, Chrissie, sagte ich, hilflos, weil ich keinen Grund angeben konnte. Ich konnte doch nicht sagen, ich muß etwas bewachen, von dem ich möchte, daß es existiert, und ohne mich existiert es nicht.

Oder wir kochen, schlug sie freundlich vor.

Lieber nicht essen, sagte ich hastig. Ein guter Wächter blieb hungrig.

Hätte sie mich gefragt, was mit mir los ist, hätte ich antworten müssen, ich balanciere am Abgrund. Und hätte sie mich gefragt, was mußt du bewachen, dann hätte ich gesagt, es handelt sich um mein Glück. Hätte sie mich gefragt, um was für ein Glück es sich handelte:

Glück ist Glück, hätte ich gesagt.

Ach, Chrissie!


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
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