Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(21) …

Ach, Kumpel, sagte sie ein andermal, Ich durchschaue dich. Ich lese in dir wie in einem offenen Buch. Soll ich dir die Seite 13 vorlesen oder die Seite 23?

Wir hatten wegen der Arbeit mehr miteinander zu tun; das ging so in Schüben. Aber es lag auch daran, daß ich, wenn ich einmal angefangen hatte, nicht so leicht aufhören konnte. E. hielt mich kurz, und das machte mich süchtig.

Manchmal kannte sie keine Grenzen, hatte kein Gefühl für die Situation, für das, was ging und was nicht. Wies man sie darauf hin, schämte sie sich, konnte nicht begreifen, daß man sie nicht rechtzeitig gestoppt hatte. Bei mir fehlt einfach etwas. Nicht im Gehirn, sagte sie, sondern woanders.

Sie mußte lachen, weil sie nicht einmal wußte, um was es sich handeln könnte.

Wie wär's mit Moral, schlug ich vor.

Sie sah mich entgeistert an. Daß es ihr an Verstand fehlte, davon ging sie aus, und wenn sich andere nun wieder darüber kranklachen wollten, dann konterte sie, indem sie den Verstand teilte; mal behauptete sie, es fehle ihr an Masse, dann wieder, an Struktur. Sie verstieg sich bis dahin, daß sie den trügerischen Eindruck von Masse mit dem Fehlen von Struktur begründete – ein bordel, sagte sie lachend – und ebensogut umgekehrt, das Übergewicht der Struktur mit dem Fehlen von allem, was sie hätte strukturieren können. Wie sie es auch drehte, und sie schonte sich dabei nicht, so gelangte man doch unvermeidlich zu der Überzeugung, daß es sich bei der Beziehung zwischen ihr und ihrem Verstand um eine lebendige, persönliche, ja intime Angelegenheit handelte, und vielleicht war es das, was sie uns vermitteln, womit sie imponieren wollte, und sie nahm schulterzuckend dafür in Kauf, daß man ihre Selbsteinschätzung für bare Münze nahm und sie für nicht besonders klug hielt; keiner von uns, freilich, wir hatten uns auf ihre Intelligenz gewissermaßen geeinigt. Daß es bei der Moral haperte, darauf wäre sie nie gekommen, so rigid erzogen, wie sie war, innerlich und äußerlich. Wenn man sich lange genug mit ihr unterhielt, kam sie unweigerlich auf den mahnend erhobenen Zeigefinger zu sprechen, bewegte ihn wie einen Scheibenwischer hin und her, ihn so in einen strafenden Finger verwandelnd, und fing an, von den Männern zu erzählen, die sich mit dieser väterlichen Geste um alle Chancen bei ihr gebracht hatten. Unwillkürlich dachte ich nach, ob ich mir das auch schon passiert war; wenn, dann zweifellos aus Liebe. Mir fiel aber keine konkrete Situation ein, doch die Unruhe blieb. Sagen wir, ich war mir keiner Schuld bewußt, aber es hätte mir ähnlich gesehen.

Trotzdem leuchtete der Gedanke ihr ein.

So richtig wußte sie eben nicht, was sich gehörte; ganz von innen jedenfalls nicht. Das sagte sie selbst. Es fehlte etwas. Ihr kam es wie ein Geburtsfehler vor. Entweder sie konnte sich nur an Angelerntes halten, und das hinterließ Lücken, oder die ursprüngliche Beziehung zwischen Angst und Moral hatte jede eigenständige Orientierung verhindert.

Auch dafür hatte sie übrigens keine Antenne, daß ihr Gehirn möglicherweise zu ihrem Privatleben gehörte. Sie hätte sich vor jedem X-Beliebigen darüber verbreitet, nicht nur vor mir.

Vielleicht war es für sie ja Privatleben und entsprechend exhibitionistisch, sich darüber zu verbreiten. Mir war jedenfalls nie ganz wohl, wenn sie auf ihre Verfaßtheit zu sprechen kam. Aber sie hätte sich totgelacht, wenn ich ihr das gesagt hätte. Privat? hätte sie gesagt und sich krankgelacht. Erstens wegen dem Verstand und zweitens überhaupt. Privat war nur das, worüber man nicht sprechen konnte. Sie pflegte das letzte Wort zu betonen, als wollte sie es ausspucken. Sie verstand nicht, daß die Leute Angst hatten, sich zu verplappern. Was Klatsch anging, okay. Aber das Eigene konnte man entweder ausdrücken, dann war es nicht, oder die Sprache versagte, und dann war's privat. Sie konnte es sich nur so erklären, daß die Leute ihr Privatleben in die Rubrik Klatsch sortierten.

Sie sagte das mit dem Können und Nichtkönnen bei jeder Gelegenheit. Mir leuchtete ihre These nicht ein. Aber sie imponierte mir trotzdem. Sie war sozusagen verführerisch. Auch wenn sie das Private ungebührlich einschränkte und ihm jede regulierende Gesellschaftlichkeit bestritt, so schuf sie doch klare Verhältnisse. Nicht in echt, natürlich, da der einzelne alles mögliche ausplaudern konnte, womit sich die andern dann herumschlagen mußten, aber was das Bearbeiten und Bedenken betraf, dieses fruchtlose Herumrühren im Kopf.

Normalerweise hätte ich gesagt, schieß los, was steht denn auf Seite 23? Was sie über mich zu sagen hatte, hätte mich brennend interessiert, auch wenn es Unangenehmes zutage förderte. Aber da ich beweisen mußte, daß ich von ihr gelernt hatte – Stichwort »Nur das war neu, worauf man selbst kam, und dann war es das alte.« – sagte ich nichts, geriet aber ins Träumen.

Sie hielt ihre blauen Augen auf mich geheftet, und ich spürte, wie meine Ohren zu brennen anfingen.

Liebst du mich? fragte ihr Blick.

Ja, ja, ja! schrie ich.

Würdest du deine Frau für mich verlassen? fragte ihr Blick.

Nein, nein, nein! schrie ich.

Würdest du deinen Beruf für mich aufgeben? Deine Bilder? Deine Bücher?

Nein, nein, nein!

Deine Musik?

Ich schüttelte bloß den Kopf. Ich hörte schon gar nicht mehr hin.

Du liebst mich eben nicht.

Ich holte Luft, atmete zwei-, dreimal tief hintereinander.

Ich liebe dich, heißt, daß ich dir meine ganze Person schenken möchte. Ich lege sie dir zu Füßen. Meine Person, heißt aber, mit allen Verpflichtungen, so wie ich eben bin. Oder es heißt umgekehrt, soweit ich nicht anderweitig gebunden bin; denn darüber habe ich keine Verfügung. Worüber ich keine Verfügung habe, das kann ich dir nicht schenken; es gehört mir nicht.

Großartig, sagten ihre blauen Augen verächtlich.

Ich seufzte.

Ich übergebe dir alles, was ich habe. Aber was man nicht hat, das kann man nicht geben.

Vielleicht hast du ja gar nichts, sagte ihr Blick.

Im Gegenteil, widersprach ich, ich bin reich. Neben meinen Pflichten habe ich einen Haufen Freiheiten. Ich kann denken, was ich will, und ich denke an dich. Ich darf träumen, was ich will, und ich träume von dir. Das sind die Freiheiten. Ich muß arbeiten und meine Frau anlächeln, das sind meine Pflichten, und ich tue sie gern. Manche Zeit steht mir zur eigenen Verwendung zur Verfügung; ich war bislang scharf darauf, sie allein zu verbringen. Jetzt würde ich sie dafür verwenden, nicht allein zu sein. Ich würde sie dir widmen.

Da ich in dieser Zeit sowieso an dich denken muß, wäre es mir lieber, ich könnte sie mit dir zusammen verbringen.

Ich könnte auch weniger schlafen und schneller arbeiten, damit ich dir mehr von meiner Zeit schenken kann. Schon jetzt schlafe ich wenig und träume regelmäßig von dir.

Ich glaube, sagte ich zögernd, es täte auch meiner Arbeit und meiner Familie nicht schlecht, wenn ich mehr mit dir lebte und weniger von dir träumte.

Wer's glaubt, wird selig, sagte ihr Blick.

Na ja, sagte ich, du bist doch auch nur aus Fleisch und Blut.

Ihre Augen waren voller Geheimnis.

Schon jetzt verbringe ich jede freie Minute mit dir, sagte ich – und auch die eine oder andere Minute, in der ich nicht frei bin. Bei jeder Tätigkeit spüre ich, wie du mir über die Schulter guckst, bei allem, worin ich normalerweise meine Ruhe finde, woraus ich die Kraft schöpfe für mein erwachsenes Leben – denn ich bin nun mal erwachsen, sagte ich aufgebracht, ich habe Verpflichtungen, ich bin amalgamiert. Ich bin nicht so ungebunden wie die seltsamen Gestalten, die du bevorzugst!

Ich sagte das direkt in ihre Augen hinein.

Was willst du damit sagen? fragten sie kühl.

Daß ich nie mehr allein bin, schrie ich, und daß das eine Menge Kraft kostet! Wenn ich musiziere, hörst du mir zu. Wenn ich Musik höre, hörst du mit; ehrlicherweise müßte ich sagen, du siehst mir beim Hören zu. Wenn ich etwas repariere, bewunderst du meine geschickten Hände. Wenn ich meine Frau liebe, dann …

Aber das letzte sagte ich nicht einmal in Gedanken. Es verschlug mir die Sprache.

Du darfst das nicht geringschätzen, E., sagte ich. Verstehst du, ich einsamer Wolf habe mich in einen gezähmten Romeo verwandelt.

Und ich will es ja auch gar nicht anders haben, sagte ich leise. Aber ich bin das So-tun-als-ob leid. Das Halluzinieren steht mir bis oben. Ich will, daß es echt wird.

Damit du dann in Ruhe von einem ungebundenen Leben träumen kannst, sagten ihre unbestechlichen Augen.

Ja, sagte ich eifrig. Das wäre fein. Dann wäre ich auf der sicheren Seite.

Auf der sicheren Seite, wiederholte sie höhnisch.

Ich bin erwachsen, E., sagte ich gequält.

Sie kannte die Leier. Ich kannte sie auch.

E. warf mir vor, daß die Welt ganz anders war, als ich behauptete, und ich mich nur weigerte, das zu erkennen. Ich dachte in Schubladen, sagte sie. Ich litt an geistigem Ordnungswahn und, was sie erboste, kam mir dabei unerhört dynamisch vor. Dabei war ich ihr zufolge in meinem Denken ängstlich, statisch wie nur irgendein Kleinbürger. Der behauptete auch, daß die Welt nun mal so war, wie sie war, und daß ihn das nicht einschränke, im Gegenteil, es gab ihm Format. E. meinte, die Welt wäre vor allem veränderlich; nicht mehr und nicht weniger (aber vor allem meinte sie, sie hätte mich durchschaut). Unter meinem Blick, meinte sie, würde alles versteinern. Gegen Pflichten an und für sich hatte sie nichts. Aber so wie sie an die Dinge heranging, waren sie ein Teil der Dynamik. Zuerst überschritt sie die Grenzen, und dann konfrontierte sie die neue Freiheit mit den alten Pflichten.

Und umgekehrt natürlich: die alten Pflichten mit der neuen Freiheit.

Ich konnte nicht begreifen, was sie davon hatte. Wieso sie tun mußte, was man ebensogut im Kopf durchspielen konnte.

Vielleicht war das ja abhängig vom Geschlecht. Männer konnten besser ausprobieren, dafür Frauen besser Kompromisse schließen. Was den Verstand betraf, so war das ziemlich gleich. Ich war aber überzeugt, daß Frauen schärfer dachten, bloß nie für lange; vielleicht war ja ihre Speicherfähigkeit im Kopf begrenzt. Was ihnen an Durchhaltevermögen fehlte, ersetzten sie durch Dogmatismus, sozusagen als Merkhilfe, und scheuten dabei vor keinem Widerspruch zurück. In der Praxis verfügten sie dagegen über eine unbegrenzte Kraft zu Kompromissen!

Ich führte diesen Gedanken nicht zu Ende, E. hätte mich über kurz oder lang dabei ertappt, wie ich – so drückte sie es aus –, eine jahrzehntelange Debatte auslöschte. Insgeheim fand ich sogar, daß nicht die Irrationalität, sondern das Durchschaubare daran die Frauen so reizend machte und ich deshalb gern mit ihnen zusammenlebte und nie ohne eine Frau hätte leben wollen, noch lieber aber mit zweien oder dreien.

E. meinte, bei ihrer Methode hätte sie es stets mit der Realität zu tun; sie müßte sie nicht erst herstellen. Ich mit meinem Kontrollbedürfnis brauchte dagegen virtuelle Bezüge. Alles mußte sich im Rahmen eines Gedankenspiels halten: hier die Fakten, dort ihre möglichen Aufhebungen; und was letztere an Reiz aufboten, das hatte erstere an Gewichtigkeit vorzuweisen. Solange die Verhältnisse ungleich waren, blieben sie auf mich bezogen; nur mit meiner Hilfe konnten sie sich vermitteln. Ohne mich ging es nicht; das eine war nicht real, das andere nicht gut genug. Das nannte sie primären oder planetarischen Egoismus.

Ich schluckte.

Heute läßt du wirklich kein gutes Haar an mir, E., sagte ich resigniert.

Mit meinem, wie sie es nannte, planetarischen Egoismus manipulierte ich noch die angebetete Geliebte. Ich würde mich für sie in Stücke hauen lassen (ich war süchtig danach). Um es auf den Punkt zu bringen: indem ich mich für sie in Stücke hauen ließ, machte ich sie gewissermaßen offiziell zu meiner Geliebten. Was immer ich tat, es drehte sich um mich. Um mein planetarisches Lebensgefühl!

Ich würde noch böse werden, und dabei hatte E. in allen Einzelheiten recht.

Jeder Mensch konnte unter einem ganz besonderen Blickwinkel betrachtet werden, der ihn als Monstrum auswies. Unter diesem Blickwinkel entpuppte er sich vielleicht als Egomane, unter einem anderen dafür als genialer Beschützer; er leistete Übermenschliches, wenn es um erste (und letzte) Hilfe ging, schlechthin um Rettung. Da war es doch ganz normal, daß man sich unter undramatischen Bedingungen von ihm bevormundet fühlte, geradezu umzingelt. Und unfair und ungerecht, ihm daraus einen Strick drehen zu wollen, alles andere darüber zu vergessen!

Ich bin vielleicht ein Monstrum, sagte ich, mitten hinein in ihre blauen Augen hinein, aber einer Affäre warst du doch nicht abgeneigt, damals, als es dir nicht gutging. Für eine Affäre mit mir wärst du dir nicht zu schade gewesen.

Wenn schon alles auf den Tisch kam, dann wollte ich das nicht verschweigen.

Sie erschrak kein bißchen, sondern nickte vergnügt, ihre Augen blitzten. Es konnte keine Rede davon sein, daß sie mich nicht ertrug.

Ich hatte schon Lust, sagte ihr Blick.

Ich wußte nicht mehr, wie sich das mit dem Fixstern und den Planeten sortierte. Wer umkreiste hier wen?

Für eine Affäre hätte ich doch nicht meine Familie aufs Spiel setzen können, sagte ich. E., das mußt du verstehen.

Deshalb sollte es ja auch nur eine Affäre sein, sagte ihr Blick. Wegen deiner verdammten Familie!

Es wäre doch nicht dabei geblieben, sagte ich.

Es hat ja nie angefangen.

Sie drehte den Spieß um. Du magst tapfer und ritterlich sein, sagte ihr Blick, aber besonders mutig bist du nicht. Beweis: du schreckst vor den Grenzen zurück. Du bist einfach zu vernünftig, um mutig zu sein. Zu gut strukturiert. Lauter Schubladen, aber keine Liebe.

Sie mußte immer das letzte Wort haben. Aber ich hatte noch einen Pfeil in meinem Köcher.

Ach, E., sagte ich, du bist nun einmal keine Affäre.

Das klang erhaben und war ganz schön brutal. Es klang nach Mittelalter und Minne, aber es war eine böse Diagnose. Jedenfalls klang es viel besser als planetarischer Egoismus.

Ihre Augen schwammen in Tränen, weiß der Himmel, wo die so schnell hergekommen waren. Es war, als hätten sie im Hintergrund gelauert und unser Gespräch belauscht. Rüde wischte sie sie mit dem Handrücken ab wie lästige Fliegen, und verschmierte, was weiß ich, Wimperntusche mit Kreideresten.

Sie sah reizend aus. Ich fühlte mich prima.

Vielleicht bist du einfach nur ein bißchen allein, tröstete ich.

Laß dich von mir anhimmeln, sagte ich in ihre verweinten Augen hinein, nimm mit meiner Liebe vorlieb. Nichts wird kaputtgemacht und nichts verbraucht, aber das Leben ist weniger tot.

Sie errötete vor Wut und sah einfach bezaubernd aus.

Ich finde schon noch jemand, für den ich bloß eine Affäre bin, murmelte sie und ballte wahrhaftig die Fäuste.

Alles hätte ich darum gegeben, dieser Jemand zu sein.

Du wirst es schwerhaben, warnte ich in ihre verweinten Augen hinein. Liebe mich!

Wart's ab, gaben ihre Fäuste zurück, ich werd's dir beweisen.

So redeten wir und konnten kein Ende finden. Aber wir fanden auch keinen Anfang.


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