Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(22) …

Sie betrog mich von Anfang an mit S. Zwar hatte sie nichts mit ihm. Aber sie betrog mich, und zwar von Anfang an.

Als mir das klar wurde, sah ich sie in einem ganz neuen Licht. Der Nebel hob sich über einem Leben, das mir bis dahin phantastisch echt erschienen war, phantastisch wirklich, phantastisch gemischt. Wie ein Kind hätte ich hinter ihr hertrappeln mögen, sie mit Fragen traktierend wie: Was treibt dich, oder wie treibt es dich? Warum kämpfen nicht Mensch und Tier in dir? Warum bist du nicht entweder Wille oder Bestimmung? Warum verlierst du dich nicht? Wie stellst du es an, daß du zwar nie glücklich, dafür mit Leib und Seele unglücklich bist? Unruhig und außer dir, ja, dabei fest auf deinen Füßen, wie ein Fels, da wankt nichts. Unsicher, dem Leben gegenüber, verzweifelt, aber nie im Kampf mit dir selbst; an dir verzweifelnd, meinetwegen, aber, wie soll ich es ausdrücken, ohne Anklage, auf keinen Schuldigen erpicht und dadurch immer irgendwie ausgeglichen, immer, wie sag ich es bloß, glücklich, auch wenn du in Tränen zerfließt? Nicht im Traum hätte ich hinter ihr den Drahtzieher gesucht, den unbewegten Beweger vermutet! Sie, der Inbegriff des Lebendigen, am Bändel von jemandem, der halbtot war?

Sie mit ihrer Lebhaftigkeit, ihrer Tränenseligkeit sollte von jemandem abhängen, der mit Sicherheit weniger lebendig war als sie und mit Sicherheit auch weniger lebendig als ich.

Er hatte keinen ausgeprägten Willen; wie hätte er die Dinge sonst monatelang in der Schwebe halten können? Nichts in ihm verlangte nach Entscheidung.

Er begehrte sie nicht. Er konnte keinen ausgeprägten Willen haben.

Das machte ihn zum geborenen Drahtzieher.

Wie an einem Zauberdraht hüpfte sie auf und nieder; erschöpft, aber kein bißchen müde.

Sie war stur wie ich, unbeweglich, blockiert. Aber ihr Wille war lebendig, und deshalb weinte sie auch so viel und wütete. Sie existierte wirklich!

Ich war wie verzaubert von ihrer Zutraulichkeit, dem Leben gegenüber, ihrer Kindlichkeit und Naivität.

Auch wenn sie zu einem miesen Ton neigte, denen gegenüber, die am Leben litten.

Sie mochte das gar nicht; sie ließ es mehr als nur durchblicken. Über andere urteilte sie rasch und ohne Verständnis, aber das war ihre Angelegenheit. Ich fand sie bezaubernd, und das war meine. Ich verlangte nicht, daß sie mich verstand; im Gegenteil. Hauptsache, ich verstand sie.

Jetzt stellte sich heraus, daß ich sie nicht verstanden hatte. Das war böse.

Sie hatte mich eingefangen, mich mit ihrer Klarheit, ihrer Lebendigkeit in die Falle gelockt. (An ihr war alles klar, und so war es passiert.) Ich dachte, man könnte davon ausgehen, daß ihre Vollkommenheit nach einem ebenbürtigen Partner verlangte. Ich war ein Partner, wenn auch vielleicht nicht ebenbürtig; oder ich war auf jeden Fall ebenbürtig, wenn vielleicht auch kein Partner – von beidem so viel wie möglich, immerhin (wenn man nicht auf absoluter Kongruenz bestand, bekam man mehr, logisch, man bekam fast das Doppelte, je weniger Kongruenz, meine ich). Jetzt stellte sich heraus, daß man keineswegs vollkommen sein mußte, um zu ihr in ein Verhältnis zu treten. Daß man irgendwer sein konnte.

Sie hatte mein Vertrauen mißbraucht, mein Verständnis, meine Verehrung. Also hatte sie mich betrogen. Das sollte sie mir büßen.

Sie mußte mir Rede und Antwort stehen.

Ich kann doch nichts dafür, entschuldigte sie sich ängstlich, so als wenn ich ihr gegenüber tatsächlich über Autorität verfügt hätte. Ich hatte doch nichts mit ihm. Was sollte ich dir erzählen?

Du hättest mir zumindest sagen müssen, daß du verliebt bist, beharrte ich. Dann hätte ich mich darauf einstellen können. (Ich hätte mir keine Hoffnungen gemacht!) Du hast es aber nicht nur verschwiegen, sondern den Eindruck des Gegenteils erweckt: daß du allein bist und allein bleiben willst. In splendid isolation, verstehst du? Das ist etwas ganz anderes als bis über die Ohren verliebt sein.

Solange nichts war, ging es nur mich etwas an, sagte sie trotzig. Und wenn etwas gewesen wäre, dann auch.

(Wahrhaftig, zum ersten Mal redeten wir richtig miteinander, nicht nur so, von Blick zu sprechendem Blick.)

Mich ging es auch an, erklärte ich wütend.

Mein Gott, E., sagte ich zum wievielten Male, wie oft habe ich dir meine Freundschaft aufgedrängt, weil ich dachte, du leidest unter dem Alleinsein. Dabei hast du dich nach jemandem gesehnt. Wie oft habe ich dir meine Hilfe angeboten. Dabei warst du gar nicht scharf auf Hilfe, sondern auf Liebe.

Das ist doch peinlich für mich, sagte ich. Wie stehe ich denn da? Als einer, der lästig fällt. Der nicht gebraucht wird. Wer weiß, vielleicht hast du dich ja mit deinem Verliebten über meine Begriffsstutzigkeit lustig gemacht.

Sie lachte über das Kinderwort.

Du hast mich gedemütigt, beharrte ich. Ich verlange Satisfaktion. Sie wollte sich ausschütten vor Lachen.

Sieh sie dir gut an, sagte ich zu mir. Du dachtest, sie wäre etwas Besonderes, und dabei ist sie wie alle andern. Der Zauber war gebrochen. Beinahe wäre ich gegangen. Aber ich blieb.

Sie wirkte zerbrechlich, wie immer, und ganz ungewöhnlich lebendig.

Ich will dich gar nicht fragen, wann es angefangen hat, sagte ich resigniert (und ich will auch nicht ausbreiten, auf welch beschämende Weise ich überhaupt davon erfuhr).

Du hättest sofort jegliches Interesse an mir verloren, sagte sie, und ich war doch so allein.

Daher wehte der Wind!

Stell dir vor, ich hätte es dir erzählt: Du hättest mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

So wäre es nie gekommen, protestierte ich schwach.

Sie hat schon einen, hättest du dir gesagt, sie braucht mich nicht.

Sie hatte vollkommen recht; genau das wäre passiert.

Du wärst beleidigt gewesen. Du hättest gedacht: Wie kann sie ein Auge auf jemanden werfen, wo sie doch mich kennt.

Ich protestierte.

Und wenn ich dich dann wirklich um etwas gebeten hätte, was echt nervt, eine Kleinigkeit nur, mit der man keinen Ruhm gewinnt, sich nur Ärger einhandelt: Ach, wieder E., warum fragt sie nicht ihren Galan!

Immer ich, hättest du gestöhnt, und wahrhaftig nach einer Ausrede gesucht, du, der nichts so verachtet wie die Zwecklüge! Hättest dich auf den Rechtsstandpunkt gestellt. Sollen sich doch die kümmern, die verantwortlich sind!

Sie tat wahrhaftig, als wäre es schon passiert.

Niemals, log ich feierlich. Mein Gott, E., hättest du nur einen Ton gesagt. Damit ich wußte, woran ich bin.

Ich wollte auch ein Privatleben haben, sagte sie. Etwas, was nur mir gehörte. Was mich einschränkte. Worüber ich nicht reden konnte. So wie du über deine Frau.

Aber E., sagte ich entrüstet, das ist doch etwas anderes! Du sagst ja selbst, daß du nichts mit ihm gehabt hast. Meine Frau und ich, wie lange sind wir schon zusammen!

Hast du denn etwas mit ihr?

Mir blieb die Spucke weg.

Laß meine Ehe aus dem Spiel, drohte ich.

Laß meine Liebe aus dem Spiel, erklärte sie trocken.

Es hätte dir niemand dazwischengefunkt, sagte ich.

Du zuallererst, sagte sie, du funkst doch immer dazwischen.

Wenn du so sicher bist, dann muß es einen Grund geben. Er muß einen Grund geben, dein Verliebter.

Dazu sind Freunde da, setzte ich eindringlich hinzu, daß sie einem unangenehme Wahrheiten sagen. Das gehört zu ihren Pflichten. Dazu hat man sie.

Ich glaubte selbst schon meinen verlogenen Worten.

Wenn man nicht mehr in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen, dann müssen die Freunde in Aktion treten. Freunde sind für gute und schlechte Zeiten da. In guten Zeiten hat man sie gern, in schlechten Zeiten sagen sie einem die Wahrheit. Das gehört zu ihren Pflichten.

Freunde sind Pflichten, sagte sie verächtlich. Der »Verliebte«, ergänzte sie träumerisch, ist privat.

Du mußt erst noch auf die Schnauze fallen, dachte ich plötzlich ordinär. Du mußt erst mal richtig allein sein, dann wirst du dich auf deine Freunde besinnen.

An ihrer Miene sah ich, daß auch bei ihr etwas in Bewegung geraten war. Der Ausdruck von Trotz, der auf ihrem Gesicht gelegen hatte, hatte sich verloren. Sie dachte nach, ihre Züge entspannten sich.

Vielleicht sind Freunde für mich wirklich etwas anderes als für dich, sagte sie. Vielleicht bin ich anders als die andern. Freunde, verstehst du, erfüllen mein Bedürfnis nach Freunden, diese Eigenschaft definiert sie für mich; für andere mögen sie andere Eigenschaften haben, ganz zu schweigen von ihnen selbst. Mich könnten sie niemals über das Fehlen eines geliebten Menschen hinwegtrösten. Du weißt doch, Marguerite Duras: Un être te manque et tout est dépeuplé!

Das heißt, ein Freund kann mir nicht den Liebsten ersetzen, es sei denn, er wird zum Liebsten. Und dann ist er kein Freund mehr.

Tut mir leid, aber mir klang es wie eine Verheißung.

Aber es ist doch normal, daß Freunde einem beistehen, sagte ich.

Das ist eben nicht normal, sagte sie heftig.

Sie murmelte etwas, das klang wie »Bei Liebeskummer kann einem nur der Kummer beistehen«. Aber vielleicht hatte ich mich verhört.

Mein Freund, sagte sie nachdenklich, hat mit meinem Liebsten nichts zu tun. Er hat auch mit mir nichts zu tun. In meinem Leben ist er das Ereignis der Freundschaft. Er ist nicht heute dies und morgen das, je nachdem, was mich umtreibt. Er ist ein Freund. Wenn ich an ihn denke, bin ich aufgeregt: X kommt, ich bin mit Y verabredet. Was für ein Vorhaben, was für eine herrliche Aussicht!

Du kannst das in »Der kleine Prinz« nachlesen, schloß sie trocken.

Aber E., deine Welt ist bevölkert von Ideen! (Ich hatte auch meinen Platon verdaut.)

Sie hörte gar nicht hin. Sie fand, wenn ich über Philosophie redete, klang das immer wie gestorben. Man konnte sich dann ebensogut mit etwas anderem beschäftigen.

Ich muß nicht wissen, was ein Freund ist, sagte sie. Hauptsache, er ist es. Schlimm ist nur, wenn er unter Freundschaft etwas anderes als ich versteht. Dann ist er nicht lange mein Freund.

Ich bin dir nie zu nahe getreten, sagte ich pikiert.

Aber das meinte sie gar nicht. Nicht daß ich mehr sein wollte als ein Freund, sondern daß ich keine Ahnung hatte, was ein Freund war, und es deshalb mit allem möglichen anderen probierte: Vater, Mutter, Lehrer, Hausmeister und Polizist; meinetwegen auch Liebhaber oder Geliebter.

Und wenn er unter Freundschaft nicht das gleiche versteht wie du, was wäre daran so schlimm?

Es stört mich, sagte sie störrisch. Es kommt mir auf Schritt und Tritt in die Quere.

Mein Freund, verstehst du, nimmt sich zurück; zugleich steht er fest an meiner Seite. Er macht sich nicht wichtig, deshalb kann er ein Freund sein. Er ist ein Du für mich. Bei andern, als Amtsinhaber und so weiter, mag er ein Ich sein.

Wie könnte er ein Du für mich sein, wenn er ebenfalls ein Ich ist? Oder wenn er will, daß ich ebenfalls ein Du für ihn bin?

Wenn er zwar sagt, daß er mich will, aber kein Ich, sondern ein Du will?

Hör auf! schrie ich. E., du spinnst!

Aber sie fuhr unbarmherzig fort.

Wie kann er für mich ein Du sein, wenn er mich kein Ich sein läßt? Wie kann er ein Freund sein?

Wie kann ich dein Freund sein, wenn du mich kein Ich sein läßt! schrie ich zurück. Wie kann ich dein Freund sein!

Sie schien aufgewacht, sah mich an, so als sähe sie mich zum ersten Mal. Idiosynkrasie sah ich keine in ihren Augen. Keine Irritation in ihrem prüfenden Blick.

Okay, sagte sie langsam. Dann laß uns auf »Los« zurückgehen. Fangen wir noch einmal von vorne an.

Ich wußte nicht, was sie meinte, nickte aber.


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