Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

Zum Inhaltsverzeichnis


(23) E. erzählt

»Feinstofflich« war sein Lieblingsbegriff. Er meinte das, wo man nicht mogeln kann, weil man nicht herankommt, am Äußerlichen hängenbleibt, an der Kruste bastelt. Was nutzten Kleingemustertes und eine flotte Frisur, wenn die Gestalt, von der stofflichen Zusammensetzung her, klobig war, die Bewegung schwerfällig, das Gemüt zwar ein freundlicher, aber träger Apparat? Nie gab er den Versuch auf, die physische Beschaffenheit auf die Seele zu beziehen, die Intelligenz, was weiß ich. Das war nicht so einfach, aber er schaffte es. Feinstofflich war, wer die Gefühlslage der andern mit seinem Körper begriff. Wer zum Beispiel einen Raum betrat und physisch im Bilde war: der war feinstofflich. Wer seiner Wahrnehmung vertraute und sich nicht irreführen ließ durch strategische Manöver irgendwelcher Art, rhetorische Strategien, oder vielmehr wer sich nicht täuschen lassen konnte, weil sich ihm die Poren zusammenzogen, ihm von der Luft übel wurde, er von der Atmosphäre Kopfschmerzen bekam: der war feinstofflich. Aber auch der nahe am Wasser gebaut hatte und zu weinen anfing, wenn andere noch abwechselnd Gründe und Trost zusammenkehrten, nicht der bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbrach, sondern aus dem sie still und beharrlich herausflossen; hier tendierte der Begriff zur Kritik, weil er Tränen nun einmal nicht ertrug, aber ein Untergrund von Sympathie blieb, so als hätte er gern selbst geweint.

Kurz, feinstofflich war für ihn, wer mit dem Körper fühlte und mit allen Gemütskräften spürte!

Das Geständnis, »nichts bemerkt zu haben«, zumal wenn es öfter geäußert wurde, noch dazu mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, führte mit unfehlbarer Sicherheit zur Verurteilung. Wer sich dazu bekannte, vielleicht als Ausweis der Harmlosigkeit, der Gutwilligkeit, der Unschuld, vielleicht, was weiß ich, als Ausweis seiner Unerschütterlichkeit und universellen Verwendbarkeit, der hatte seine Chance gehabt. Er war der Unbeseeltheit überführt, der seelischen Grobknochigkeit; kurz, er war das Gegenteil von feinstofflich.

Das war nichts, was man reparieren oder kompensieren konnte. Es war schiefgegangen, war im Ansatz mißglückt. Im schlimmsten Fall – und das war der häufigste – merkten es die Betreffenden nicht; die Beteiligten schon, es war eine Probe auf ihre eigene Feinstofflichkeit. Die Betreffenden waren verurteilt, ohne zu wissen, warum (ja, ohne zu wissen, daß). Im günstigsten Fall verdienten sie Mitleid, zumal wenn die Grobstofflichkeit von der Physis ausging, vielleicht sogar mit seelischer Empfindsamkeit gepaart war. Im ungünstigen mußte man sie meiden.

Feinstofflichkeit dagegen verbürgte Adel; sie war ein Zeichen im guten alten Sinn, Stigma und Auszeichnung in einem. Sie charakterisierte die Grundsubstanz, das Holz, aus dem man geschnitten war (es sollte durchaus Holz, aber es durfte nicht hölzern sein), metaphorisch gesprochen die Körnung. Das hatte zum Beispiel mit dem magersüchtigen Girl auf der Titelseite der Illustrierten nichts zu tun. Aus feinem Stoff mußte der Mensch sein, da half ein bißchen mehr oder weniger gar nichts, und ein Quentchen Reife gehörte auch dazu, sogar bei einem ganz kleinen Kind. Ohne Geist ging es nicht. Gelegentlich kam Weinerlichkeit ins Spiel, Schwärmerei sowieso, also das unangenehm Wolkige der Innerlichkeit. Sogar Inbrunst und Tränenseligkeit konnten nicht ausgeschlossen werden, von der Kehrseite zu schweigen, dem groben Schnitzer, der unvermittelten Herzlosigkeit. Das war nicht immer angenehm, zumal wenn man selbst feinstofflich war, hatte seinen Ursprung aber in – Feinstofflichkeit. Der Ironiker, der Skeptiker, der Freigeist, sie alle, die sie ebenfalls für sich reklamierten, durften die peinliche Verwandtschaft nicht verleugnen, mußten sich mit ihr auseinandersetzen, notfalls sogar für sie eintreten, ausgerechnet sie, die den coolen Ton gepachtet hatten.

Brachial vorgehen mußte man gegen die sich aufspreizende Grobstofflichkeit, weil sie einen Angriff auf das Feinstoffliche beinhaltete. Wehren war erlaubt.

Aber auch Reizbarkeit war ein Ausweis von Feinstofflichkeit, in der angriffsbereiten Form der Selbstverteidigung, der unwiderleglichste, authentischste Beweis überhaupt, ein Seismograph nicht für Leidensfähigkeit, die gewöhnliche Opferhaltung dessen, der sich alles zu Herzen nimmt, sondern für Empfindsamkeit.

Reizbarkeit, das war Amok, feinstofflich aufgefaßt.

Dem, der mit ihr umgehen konnte, lieferte sie ein Instrumentarium von selten feiner Unterscheidungskraft; nur leider war sie in echt nie zu dosieren. Mit ihrer Hilfe konnte man zum Beispiel grobstoffliche Esoterik mühelos von feinstofflicher religiöser Schwärmerei, man konnte sie von den Extasen der Seele unterscheiden, die sich erheben wollte; wie lange hätte sich womöglich der Verstand geplagt! Woran sollte er erkennen, was tapfer war und was einfach nur dumpf statt stark.

Für den Esoteriker strahlte der Kristall; die Gutgläubigkeit konnte einen zur Raserei bringen. Beim religiösen Empfinden weinte die Seele; das nervte bloß.

S. haßte Tränen als ein Druckmittel, schreckte auch nicht davor zurück, sie zur Waffe derer zu erklären, die nicht genug Seele hatten, um auf sie verzichten zu können, im letzten Grunde also grobstofflich waren; zartbesaitet, aber nicht zart. Wenn eine Frau weinte, ging er, in seiner Empfindsamkeit gekränkt, weg.

Sein Schicksal war Reizbarkeit. Er nahm es als Auftrag.

Er war feinstofflich, von der Grundsubstanz her, und so launisch, daß er, wiewohl ein kräftiger Kerl, überaus verletzlich wirkte. Filigran war das schützende Korsett der Person, was immer das sein mochte; ungehindert strömte es durch das feine Gitterwerk von außen nach innen und ebenso ungehindert zurück, so daß eine Leere entstand, ein unwiderstehlichen Sog, sich aufzulösen, die individuelle Sache ein für allemal zu beenden.

Sein Schicksal war es, das wertloseste Zeug zu speichern, so als wäre es Kunst und müßte für die Nachwelt aufgehoben, in alle Ewigkeit bewahrt werden. Sein Kopf hätte als alltagsethnologische Sammlung, als Galerie für trash Furore gemacht!

Er rannte vor den Abdrücken der Wirklichkeit auf seiner Seele davon, vor den Spuren der Einbildung. Jeder Moment, wo er nicht ausrastete, war im Grunde ein Wunder.

»Innen«, das war bei ihm wie eine Membran, wie eine Empfangsstation oder ein Objektträger; auf ihm landete, was immer von außen eintreffen mochte. Wenn es sich nur um eine Landung gehandelt hätte! S. empfand es als Einschlag. Was andere als willkommene Informationen begrüßen, die sie mit der Welt vermitteln, das waren für ihn Invasoren von einem anderen Stern, ausgesandt, seine kleine Welt zu erobern. Er spürte, wie die Botschaft in ihn hineingeritzt wurde, als wäre er aus Stein und sie sollte zu einem Stich verwendet werden. Immer war es, als müßte er fühlen, was er nicht hatte hören wollen, und dabei war er doch das Gegenteil von taub oder träge und reagierte auf den kleinsten Umstand. Noch wo er sich angeregt fühlte, im guten Sinn provoziert, da spürte er es förmlich, daß er aufquoll wie ein Schwamm und die Kontur verlor.

Ob es sich nun um Madagaskar handelte, das Wesen der Liebe, die neueste Krankheit, die jüngsten Prognosen, mit dem, was andere ihm zutrugen, saugte er sich voll, bis er ausgepolstert und ausgeglichen wirkte, hübsch rund, und sich knubbelig anfühlte. So hatte man ihn gern, und so wollte ihn jeder besitzen. Aber der Griff ging ins Leere. Zwar konnte man an jeder Information andocken, aber man konnte ihn nicht festnageln. Was man für Materie gehalten hatte, für solide Bestandteile der Person, das waren nichts als offene Wunden! (Er kannte keine Narben, übrigens, zur Narbenbildung ließ er es nicht kommen; er kratzte rechtzeitig.)

Nur im harmlosesten Fall machte er einem klar, daß man sich in der Adresse geirrt hatte. Nach Madagaskar wollte man – er nie und nimmer! Man war bereit für die große Liebe – du meine Güte, auf welchem Stern lebte man denn? Und falls man ihn gemeint hatte: Er liebte überhaupt nicht mehr (und wollte auch nirgendwohin). Nichts gegen Sex, räumte er großzügig ein, aber nur ohne Liebe und nur mit Frauen, gegen die man das durchsetzen konnte; die zwar auch von Liebe redeten, aber die man mit F… zum Schweigen brachte (und hinterher fing man einfach nicht mehr an zu reden). Aber vom Liebhaben konnte er fabulieren, daß selbst gestandene Romantiker vor Neid erblaßten.

Er war porös wie ein Bimsstein. Die äußere Schicht war nicht mehr da, oder sie leistete einfach nicht, was sie sollte: die Person abgrenzen, einen Reizschutz installieren, für ein Minimum an Ruhe, Orientierung nach innen sorgen. Beschönigend ausgedrückt, befand er sich in einem unermüdlichen Stoffwechsel mit der Außenwelt; aber bitte mit getrennter Betonung auf »unermüdlich«, auf »Stoff« und auf »Wechsel«. Jedenfalls konnte man die Aussage gar nicht wörtlich genug nehmen: zu fünfundneunzig Prozent, mindestens, bestand er aus Fremdem.

Ein solcher Anteil bändigte sich nicht so leicht. Kein Sterblicher hätte das geschafft. Wie sollte er es dann schaffen, und dabei hatte er eine unerhörte Fähigkeit zu assimilieren. Aber bei der Menge dessen, was auf ihn eindrang, hätte auch die nie und nimmer gereicht; er mußte sich einfach wehren.

Viele empfanden ihn als ungehobelt, seinen Ton als rüde. Wer auf ihn zutrat, wurde zurückgeschleudert, rieb sich die Nase, beschwerte sich. Aber wie sonst sollte er sich ihrer erwehren, die ihm sämtlich zu nahe kamen oder die er nicht auf die normale Weise in Schach halten konnte, weil er durchlässig war und sie tatsächlich von allen Seiten in ihn hineinströmten. Immer schleuderte er einen von ihnen zurück, der bereits in seinem Innern angekommen war, nicht etwa anklopfte. Der schon in ihm Platz genommen hatte und da sein Zeugs auspacken wollte, seine eigenen Erinnerungen, seine eigenen Pläne – so als hätte er, S., davon nicht mehr als genug!

Abweisen gab's nicht. Der Ort fehlte, an dem das hätte stattfinden können. (Die Tür war ausgehängt und so weiter, Gegensprechanlage niente; wie auch.)

Noch die ihn unbedingt in Therapie schicken wollten, weil sie sein Elend sahen, taten dies aus seinem Inneren heraus, wo sie sich installiert hatten, gemütlich ihr Butterbrot auswickelten und sich zu Hause fühlten.

Mit aller Kraft schleuderte er sie zurück und war danach erschöpft.

Ihn empfanden sie als grob, sich selbst als Zielscheibe; nicht bloß seines Spotts, vielmehr seines Hohns, seiner Angriffe, seiner Ausfälle. Sie hatten sich bei ihm eingenistet, und nun wußten sie nicht mehr, wo sie anfingen und aufhörten. Der eigenen Orientierung beraubt, schoben sie alle Schuld auf ihn, der sie verhöhnte. Gutmütig im Grunde, treu wie Gold, tat er ihnen den Gefallen, beschimpfte und verhöhnte sie, machte sich zum Ungeheuer und sie zum Opfer.

Lamentierend zogen sie sich zurück.

Hinterher fühlte er sich erleichtert. Auch das war schließlich Stoffwechsel.

Wenn man sich damit trösten wollte, daß man jedenfalls der letzte in der unendlichen Reihe vielversprechender Neuer war – hatte er aus seinem Überdruß, seiner moralischen und physischen Erschöpfung doch kein Hehl gemacht –, dann blätterte er unversehens eine neue Seite auf, schrieb mit seiner Miniaturschrift »Neu!« auf das leere Blatt, war in seinem Verhalten wie ausgewechselt, und wer auf Wiederholung hätte verweisen mögen, war längst nicht mehr dabei oder durch die wundersame Verwandlung der Person, das wunderbare Ende der Reizbarkeit, das ungekünstelte Lächeln, die unwiderstehliche Botschaft, daß der Mensch ein Bruder unter Brüdern sei, zum Verstummen gebracht.

Hatte man jemals das Wort vom Wolf gehört, der dem Menschen … oder umgekehrt?

Im selben Raum? Soeben noch? Von ihm?

Weit öffnete er sein Inneres, so daß jeder hereinspazieren konnte, sah es in ihm doch nicht anders aus als bei allen andern. Überall die gleiche Einrichtung, vor allem Herz. Überall die gleiche Ausstattung, Lust, Frust und Angst. Vor allem Bequemlichkeit. Unbefangen zog er sich aus, stellte ungeniert sein Bäuchlein zur Schau, diskutierte Familienprobleme, Figurprobleme, Verdauungsprobleme. Gab es jemanden, der sich nicht vor dem Frühjahr fürchtete, wegen der Speckröllchen, die er sich im Winter angefressen hatte? Ein Heuchler, der ohne Beziehungsprobleme dahinlebte, er, jedenfalls, wollte nichts mit ihm zu tun haben. Nichts lehnte er innerlich mehr ab als die Ausnahme. Als Anhänger der exakten Wissenschaften konnte er bestätigen, daß die Variabilität unter den Menschen gering und die Ausnahme im Grunde langweilig war: Sie weckte vielleicht kurzzeitiges Interesse, aber nicht Liebe.

Trivial war schön. Das Allgemeinmenschliche war herrlich.

Wer etwa heimlich von einer Robinsonade träumte oder sich mit ihm in eine gemeinsame Weltflucht hineinphantasiert hatte, war nicht schlecht enttäuscht, wenn er Zeuge einer solchen Weltverbrüderung wurde. Störte er die Harmonie?

Du lachst ja gar nicht, bist du schlecht gelaunt? Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?

Mich kann man nicht für sich allein haben, sagte sein strahlendes Gesicht. Kein Wölkchen trübte die heitere Stirn. Blitzblank, die Augen. Lachend, der Blick.

Vom reichlich gedeckten Tisch fiel auch der eine oder andere Brocken für den Spielverderber ab, nie uneingeschränkt süß, immer mit einer Warnung versetzt: Mach mir die gute Laune nicht kaputt, poch nicht auf Zweisamkeit, wo ich ausnahmsweise gut drauf bin, keine Querschläger bitte, siehst du nicht, daß ich ein einziges Mal heiter bin? Bloß jetzt keine Vorhaltungen, keine unangebrachten Erinnerungen!

Im wolkenlosen Himmel grollte es vom kommenden Umschlag, Gewitter zog auf. Würde es einen diesmal hinwegfegen? Oder sich über einem anderen entladen, der dann von heute auf morgen nicht mehr da war? Welcher Platz konnte schon als angestammt gelten?

Gestern war ich schlecht gelaunt, sagte ich einmal, nach einem Tag, an dem sie alle guter Dinge gewesen waren, nur ich hatte gelitten.

Staunend vernahm ich die Lüge. So war das also, wenn man Selbstverrat übte. Im Grunde ganz unspektakulär. So leicht ging es, daß ich es gleich noch einmal probierte.

Richtig schlecht gelaunt war ich, erklärte ich reumütig.

Das kannst du wohl sagen, gab S. lächelnd zur Antwort. Und das tollste war, du wolltest uns dafür verantwortlich machen. Wenn das nicht Projektion ist!

Mach dir nichts draus, tröstete er, wir haben alle unsere Stimmungen.

Ich lächelte dankbar.


 ← Zurück |  → Weiter

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt1.html.
Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.