Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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Wenn wir auf unsere besondere Art kommunizierten, dann redeten wir von Unbewußtem zu Unbewußtem.

Es kam vor, daß die Umstehenden erschraken, weil unsere Stimmen rauh klangen. Es wirkte wie ein Angriff, ausgeführt mit den Waffen des Verstands, mit Zielfernrohr und Präzisionsinstrumenten, und war doch nur die Stimme des Herzens.

Das kam öfter vor.

Ich bemerkte auch, daß die Leute mit uns umgingen, als hätten sie uns ertappt – ich sage schon »wir«. Sie glaubten, wir hätten etwas miteinander und gäben es nur nicht zu. Da wir mitten in der Unterhaltung in eine andere Form der Kommunikation umschalteten, uns wie in eine andere Situation hineinkatapultierten, meinten sie, wir schalteten eben von normal auf intim um, kurz von der Wohnstube aufs Schlafzimmer. In Wirklichkeit hatten wir nur von bewußt auf unbewußt umgeschaltet, und was das bedeutete, konnte im Grunde niemand ermessen, nicht einmal wir, war es doch, wie wenn einer im andern gewissermaßen Platz nahm und von dort redete. Jedenfalls konnte er nicht ohne weiteres zurückbeordert werden; niemand hatte so recht Verfügung über den Ort.

Daß ein Wechsel stattgefunden hatte, merkte man schon an der Ruppigkeit des Tons; wären wir noch auf der Ebene der Argumente gewesen, er hätte mit Sicherheit Unmut erregt, aber wir waren schon auf der Ebene der Laute. Eine karge Fürsorglichkeit hatte sich an die Stelle der komplexen Verständigung gesetzt, ein übergreifendes, oberflächliches, immer irgendwie gefühlskalt anmutendes, auch vor einem gelegentlichen Klaps nicht zurückschreckendes »Muttern«.

Ich hatte nicht immer ein Sensorium für das ruhige Nebeneinander anstelle des hysterischen Füreinander, des trostlosen Ineinander, und fiel ins Argumentieren zurück. Aber die Argumente behielten einen schrillen Ton, einen Anstrich von Zetern und Lamentieren. Wenn das passierte, brach ich die Unterhaltung regelmäßig ab. Dabei hätte er sie noch stundenlang fortsetzen können, als unbewußte Kommunikation, auf der Ebene der Laute, und er setzte sie auch gelegentlich fort, über jedes Scheitern hinweg; er spann den Faden einfach weiter.

Ich hätte das auch gewollt, aber ich fand den Faden nicht. Ich wollte fühlen und sehen; ich war kein Nachtwandler. Er dagegen fand sich nur im Finstern zurecht, damit will ich sagen, bei Tage fand er, Infos noch und noch, Bilder, Schlüsse, Einsichten, aber nur nachts fand er sich zurecht. Ich konnte nicht sein, ohne zu wollen. Er konnte nur das jeweils eine ohne das andere, aber das konnte er phantastisch.

Hundertmal habe ich das Scheitern dieser seltsamen Beziehung durchlebt – wenn ich dachte, es wäre alles vorbei, und es gab auch nichts mehr zu denken – und voller Zuversicht wieder angeknüpft, wenn er mir bewies, daß sie niemals geendet hatte; daß das Scheitern virtuell war, daß wir es mit Hingabe gespielt, die Beziehung aber keineswegs in Frage gestellt hatten. Ich machte mich mit dem frischen Mut dessen ans Werk, der noch nie eine Enttäuschung erlebt hat, und bereits der erste Schritt gab mir recht: es ging vorwärts. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den andern. Es kann gut oder schlecht sein, sagte ich mir, gefährlich oder ungefährlich. Auf jeden Fall ist es neu.

Was Fehler anging, war er überaus großzügig. Fehler kamen vor, sie hatten mit Argumenten zu tun. Auf der Ebene des Unbewußten, auf der wir miteinander kommunizierten, waren es durch die Bank Flüchtigkeitsfehler, Reste vom Argumentieren, ein erratisches »und, ja, weil, nein«, nichts Substantielles. Selbst Verstöße gegen das System wurden verziehen. Sie waren schlimm – und ich erlebte sie, als wenn Teile von mir zerstört würden –, aber sie gingen vorüber, so wie alles, was sich wichtig dünkte. Während ich bloß den Verstand am Zuge sah und mit der Empfindlichkeit des Kopfmenschen reagierte, spürte er wohl die unbewußten Kräfte und war nicht im mindesten gekränkt. Ein entfesseltes Herumfuhrwerken konnte unter diesem Gesichtspunkt angemessen sein; es war nicht unbedingt schön, aber authentisch, fehlerfrei jedenfalls, im Sinn von: vom Fehler befreit. Was konnte man ihm Größeres zubilligen? Auch Argumente konnten Äußerungen des Unbewußten sein; dann waren sie eben Tatsachen oder Botschaften, noch in ihrem Wie wesentlich ein Etwas. Sie waren ein Ding, und mußten als solches behandelt werden. Das heißt, man durfte es anfassen, von allen Seiten betrachten, auch hin- und herrollen, wenn es sein mußte, aber auf gar keinen Fall zerlegen oder beschädigen.

Sobald Argumente, die eigentlich Gefühlstatsachen waren, als Verstandestatsachen verwendet wurden, ging regelmäßig alles in die Brüche. Von ihrer Bösartigkeit, ihrer Zielgenauigkeit, ihrer feinsinnigen Treffsicherheit macht man sich keine Vorstellung!

Aber selbst hier war er großzügiger als die meisten. Er hielt noch am Unbewußten fest, wenn die andern schon auf Vernunft umgeschaltet hatten. Natürlich konnte man es auch anders sehen. Er mutete den andern soviel zu, daß sie sich nur durch einen Sprung in die Vernunft retten konnten, und da mochte er noch soviel von der Unzerstörbarkeit der Gefühle faseln, von essentieller Treue und so weiter. Er, wiederum, behauptete, sie hätten sich an Akzidentien aufgegeilt oder, was dasselbe war, an Unvermeidlichem, kurz, ihn nicht so genommen, wie er war, und doch hätten sie ihn einmal geliebt; wäre er anders gewesen, es wäre gar nichts passiert – kein Vorgang, nicht einmal Sex, geschweige denn Liebe.

Ich war entschlossen, nicht in diese Falle zu tappen. Ich sagte mir: Ich liebe ihn, was er macht, ist mir egal. Freilich mußte er mir helfen, den Faden nicht zu verlieren. Aber darum liebte ich ihn ja.

Dabei war ich kreuzunglücklich. Eigentlich ein Stehaufmännchen, liebäugelte ich mit der Resignation. Wir sind uns überhaupt nicht nahe, redete ich mir ein, wir haben ja nicht einmal etwas miteinander; andere hatten wer weiß was miteinander und waren sich kein bißchen nahe. Wir liebten uns eben nicht richtig.

Wir teilten eine sehr private Seite unserer Existenz, die vielleicht, die man sonst nicht teilt. Aber wir teilten nicht das Kopfkissen miteinander. Im Gegenteil, je mehr ich mit ihm schlafen wollte – weil ich von der Überzeugung nicht lassen konnte, daß diese Frage über Wohl und Wehe unserer Beziehung entschied –, desto schärfer hielt er beides auseinander, desto entschiedener wurde er in seinen Vorkehrungen, desto sorgsamer in seiner Abwehrstrategie.

Nicht lieblos, aber sorgsam; beinahe liebevoll.

Freilich, immer mehr mußte vermieden werden. Wie ein Todesstreifen zogen sich seine Sicherheitsvorkehrungen durch unser Verhältnis, kahl lassend, wo durchaus unbefangenes Miteinander stattfinden konnte, hätte er durch seine Barrikaden – oder ich durch mein halsstarriges Wollen – nicht alles vermasselt. Er sah es mir an der Nasenspitze an, daß ich »nah« und »lieb« miteinander verwechselte; also mußte »näher« um jeden Preis verhindert werden. Wir hatten früher dies und das zusammen gemacht, alltägliche Dinge; damit war es vorbei. Früher, dachte ich zuweilen träumerisch, ja da hatten wir etwas miteinander gehabt. Jetzt waren wir clean.

»Näher« war ausgemerzt; fast konnten wir uns unbefangen begegnen.

Wenn ich soweit war, daß ich meine Liebe eingehen lassen wollte, schaltete er regelmäßig um auf »viel näher«. Und wenn ich darauf hereinfiel, schaltete er zurück. Sogar ich begriff schließlich, daß es sich hier um den Kontrapunkt zur Liebe handelte; für ihn waren Sex und Nähe Antagonisten.

Liebe wäre für ihn das Größte gewesen, wenn es sie denn gegeben hätte, aber es gab sie nicht. Sie existierte zwar, aber nur in der Sphäre der Worte. Dabei gab niemand mehr auf Worte als er, und niemand konnte so perfekt wie er etwa »Liebesverhältnis« deklinieren, ein Wort, bei dem andern die Kehle austrocknete. Für ihn war es Programm, nicht mehr und nicht weniger, so daß man sich ewig danach sehnen konnte. Aber Sex gehörte für ihn in die Sphäre des Verstands, es war dem Bewußtsein assoziiert, dem Kalkül, dem strategischen Denken. Es war ein Vorgang und konnte demzufolge durchdacht, ein Ablauf, und demzufolge gegliedert werden. Davon abgesehen, war es eine durch und durch sachliche Handlung, die für die tollsten Phantasien Raum ließ.

Sex war eine Herausforderung, mußte doch Nähe herbeigeführt werden, ohne daß Nähe entstand. Die unumgängliche Zweisamkeit durfte die unverbrüchliche Einsamkeit nicht gefährden. Das Beenden war nicht der leichteste Teil daran, aber man lernte es, und dann konnte man es auch. Entschlußkraft und die Fähigkeit zum abrupten Handeln waren dazu erforderlich: Wir haben doch nur Sex gehabt.

Wir hatten keinen Sex.

Da er eine sehr konkrete Vorstellung von der Liebe hatte, konnte man ihn mit dem körperlichen Verlangen nach Vereinigung nicht beleidigen. Man trat ihm damit nicht zu nahe, und ebensowenig demütigte man sich selbst, in seinen Augen jedenfalls nicht. Im Gegenteil, der Wunsch stellte eine lebendige Beziehung her zu jener wahren Liebe, die in der Sphäre der Worte und Werte existierte (obwohl in echt dort alles ganz schön hausbacken und trivial war). Sofern man selbst einen Draht zum Unendlichen hatte, war es geradezu verdienstvoll, ein solches Verlangen zu äußern. Sich durch die unvermeidliche Ablehnung beschädigt zu fühlen, schwer an der verlorenen Würde zu tragen – was für ein Quatsch! Verlangen zu äußern war legitim, es war idealistisch. Es abschlägig zu bescheiden versah die Liebe mit dem Modus, der für ihre realistische Bestimmung nötig war. Liebe ja, lautete das abschließende Urteil, aber nur in der Negation!

Für ihn war das praktizierte Nähe. Gemeinsam arbeiteten wir den Begriff der Liebe heraus, ich, wie es einer Frau zukam, auf das Tun versessen, er mit Kategorien.

Nicht jeden ließ er so nahe an sich heran; ich durfte mich in mancher Hinsicht ausgezeichnet fühlen. Mit andern schlief er vielleicht, aber er erlaubte ihnen keineswegs, etwa mit ihm über Liebe zu diskutieren. Er selbst, wenn er mit ihnen schlief, arbeitete unermüdlich an diesem Begriff, aber allein, Einsamkeit prägte das Resultat: ein Übermaß an Vollkommenheit, wenn man so sagen darf, ein Übermaß an Strategie; zuviel Gedanken, zuwenig Nähe.

Einen Großteil der gemeinsam verbrachten Zeit verwendeten wir darauf, die überflüssigen Dinge zu lassen, die im Umgang mit andern Leuten nötig waren, und so das Skelett der menschlichen Beziehungen herauszuarbeiten, einer Wirklichkeit, so hart und beständig wie die prima materia der Philosophen. Wir wollten da anfangen, wo andere umzukehren pflegten: bei einem Tag ohne Programm, einem Ausflug ohne Ziel, einem Spaziergang ohne Worte. Irgendwann würde auch eine Nacht ohne Liebe dazukommen. Es war nicht zu glauben, worauf man alles verzichten konnte!

Tagelang ersann ich Situationen, in denen es honorable erschien, gemeinsam eine Nacht zu verbringen, tagelang beschäftigte ich mich mit dem Gedanken an die Nacht. Ich erschöpfte mich bei dem Versuch, Nähe und Nicht-Nähe zusammenzubringen.

Ach was, gib auf, sagte ich mir, hör auf zu halluzinieren.

Aber ich konnte nicht. Das Problem war, ich konnte Aufgeben und Umkommen nicht auseinanderhalten. Beim Gedanken an Aufgabe wurde mir schwindlig; ich taumelte. Erst mußt du schwindelfrei werden, sagte ich mir, dann darfst du abstürzen.

Ich staunte nicht schlecht, als ich einmal seine ausgestreckte Hand erblickte; ich hatte das Gleichgewicht verloren, oder er mir einen Schubs gegeben, beides kam in unseren Übungen vor.

Willkommen im Club, sagte er, das war ein Kompliment, weil ich mich zu fallen getraut hatte. Ich war über meinen Schatten gesprungen.

Vielleicht sagte er auch gar nichts, aber seine Hand redete; auf der Ebene, auf der ich angekommen war, hatte das Stumme Worte und das Unverständliche eine klare Bedeutung. Du gibst mir die Hand? fragte ich verwundert; denn normalerweise bevorzugte er die Brechtsche Methode, und er hatte auch eine kindische Angst, den kleinen Finger zu geben.

Er nickte, von der Frage nicht einmal befremdet. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, half er mir auf. Ich war ohne Wenn und Aber gefallen, dadurch waren die Gesetze der Nähe in Kraft getreten, nicht länger regierten die Gesetze des Willens. Eine Hand war eine Hand, eine Frage war eine Frage, und es gab keinen Grund, das eine oder das andere zu verweigern.


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