Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(26) E. erzählt

Am meisten liebte ich die Einsamkeit, wenn ihr Ende absehbar war.

Ich liebte sie abends, wenn ich am nächsten Morgen etwas vorhatte, vielleicht früh aufstehen mußte (am schlimmsten war sie morgens, aber das weiß ja jeder).

Am meisten liebte ich sie, wenn ich sie bedroht fühlen durfte. Dann war sie so kostbar wie alles, was knapp ist. Dann vermißte ich sie schon, und dabei hatte ich sie noch.

Wenn am andern Ende des Tunnels bereits das Licht aufschien, dann hoben sich die Kulissen meiner Einsamkeit körperhaft ab; noch die Balkontür stand frei im Raum, wie ein echtes Kunstwerk, und die armseligen Requisiten des Überlebens – Zigaretten, Zeitung, Gettoblaster und die unvermeidliche Tischkante für die Füße – verwandelten sich in ein sorgsam arrangiertes Ensemble.

In dem Moment, wo sich – in Erwartung ihrer Erledigung – die Dinge umgedreht hatten, schien es besonders schwer, ihr Ende hinzunehmen, klebte ein Sinn an ihnen. Hatte ich mich nach Jahrzehnten der Zweisamkeit, der Unselbständigkeit nicht dem Alleinsein widmen und es richtig lernen wollen? War mir nicht die Liebe dazwischengekommen und mit ihr die blöde Ideologie, derzufolge, was immer sich entwickelte, zu einem Abschluß gebracht werden mußte, denn das war nun mal sein Sinn? War ich nicht diesem simplen Modell gefolgt und scheiterte nun, weil es an allem haperte, vor allem an der Entwicklung? Und kam dennoch nicht los davon, obwohl alles wieder auf Alleinsein hinauslief, nur diesmal ohne Glanz, dafür mit einer zehrenden Unruhe?

Seltsamerweise konnte ich mich nicht einmal in Gedanken lösen; vielleicht weil es ohnehin so schwierig war, einen Zweck zu bestimmen, und nearly unmöglich, ihn wiederaufzugeben. Das heißt, logisch schon – man brauchte ihn bloß abzutrennen –, aber gefühlsmäßig oder lebenspraktisch nicht (vielleicht auch umgekehrt: praktisch war nichts leichter als das, man mußte ja nichts vollbringen; aber da man in Gedanken ständig wiederanknüpfte, verkraftete man es eben nicht).

Von heute auf morgen verlor mein Leben seine Bestimmung. Was hatte es für einen Sinn, die Stille zu spüren, mir die Einsamkeit zum Freund zu machen, kurz das Alleinsein schön zu finden, wenn ich morgen, sagen wir – segeln ging?

Ich ließ die Einsamkeit im Stich. Prompt ließ sie mich im Stich.

Wenn ich vorher gewußt hätte, wie es war, wenn man etwas vorhatte, dann hätte ich vielleicht das Alleinsein vorgezogen. Oder wenn ich gewußt hätte, wie leicht es war, nicht mehr allein zu sein, dann wäre ich es noch ein bißchen geblieben. Hätte ich gewußt, daß sich die Zweisamkeit bei der Einsamkeit bediente, kräftemäßig, oder der äußere Reichtum beim inneren, ja, dann hätte ich es mir vielleicht noch einmal überlegt. Denn ein fröhliches Gemüt, aber nichts zu freuen haben war traurig; einen Grund zur Freude, aber nicht genug Substanz zum Freuen trauriger.

Und so war ich nie einsamer und unglücklicher als in dem Moment, wo ich mich von beidem, Unglück und Einsamkeit, verabschieden sollte, und sah dem Morgen mit leeren Händen entgegen.

Wenn ich vom Ausflug heimkehrte, verbrannt, die Wangen von den hinter der konsternierten Fassade geweinten Tränen erhitzt – die Augen rollten unbehaglich in der fremden Höhle –, dann war ich einsamer denn je, verworfen, abgelehnt, und mein Zimmer erschien mir wie eine aufgelassene Bühne. Ein Gespenst, irrte ich zwischen den Gegenständen umher, und hätten nicht die hektischen Finger sich selbständig betätigt und das Leblose abgetastet, das Eckige, das Spitze, und wäre nicht ein befremdliches Krächzen aus meiner Kehle gekommen, das auf Implosion deutete und die Stille Lügen strafte, ich hätte mich selbst zu den Dingen gezählt. Aber wenn ich genau hinhörte, konnte ich sogar ein Statement entziffern, »Das war's jetzt also!« oder einfach nur »Siehste!«, und einmal vernahm ich eine bündige Anweisung, mit heiserer Stimme hervorgestoßen, »Ich brauche etwas zu trinken!« und ging in die Küche, um mich am Wasserhahn zu versorgen.

Es dauerte, bis der Heilungsprozeß in Gang kam, ach was, Heilung! Jedenfalls verlief er nicht über Ablösung, sondern Anknüpfung und geschah nicht durch Verschmerzen, sondern Wiederherstellen, der Fachmann hätte gesagt Verleugnen, ich sage Anerkennen. Ich liebte ihn, er liebte mich nicht. Er hatte mich zum Segeln mitgenommen und systematisch beschimpft; aber er hatte mich mitgenommen.

Ein seltsames Überkreuz stellte sich her (und ich merkte zum Beispiel, daß meine Freunde mich mißtrauisch beäugten): die Tatsache galt, das Urteil aber, als bloße Meinung, galt nicht. Pech für mich, daß S. zu einem erheblichen Teil aus Meinung bestand. Ihrer Natur entsprechend war sie dem Wechsel unterworfen, und so wurde auch ich dem Wechsel unterworfen. Pech auch für mich, daß er mich abwechselnd zu den Tatsachen und zu den Meinungen rechnete. Als Meinung wurde ich bald anerkannt, bald abgelehnt. Freilich hätte ich, ohne mich in der Sphäre der Meinung aufzuopfern, es nie zur Anerkennung als Tatsache gebracht.

Als Meinung wurde ich immer dann abgelehnt, wenn ich mich an meine Karriere gewöhnte, wenn ich also aus der Anerkennung Profit ziehen und zu einer Tatsache werden wollte; da wußte ich noch nicht, daß es sich nur um eine der berühmten Sachvorstellungen handeln konnte. Wenn ich mich aber verleugnet fühlte – und das geschah so, daß die Tür zum Unbewußten sich schloß –, dann bekam meine Ansicht Gewicht, und meine Stimme zählte. Denn irgendwie mußte ich ja vorkommen; gar nicht gab's nicht.

Auch wenn er mit dem System seiner Meinungen insgesamt ins Minus gerutscht war, so daß es den Eindruck machte, als hätte er sich auf die triviale Seite geschlagen, wo es keinen Widerspruch, keine Anspielung, nur eine lineare Ausrichtung gab – beziehungsweise, um es einmal aus seiner Perspektive zu formulieren, wenn er drauf und dran war, den Boden unter den Füßen zu verlieren und wir seinen Hilferuf als Beweis nahmen, daß er sich zum Spießer bekehrt hatte –, dann wurde natürlich auch ich als Meinung abgelehnt; SOS, die einfachste Buchstabenkombination, war mir ja verschlossen.

Oder wenn er auf der Ebene der Tatsachen und der Ebene der Meinungen völlig gleich agierte, wenn die Frauen, mit denen er umging, den Meinungen entsprachen, die er von ihnen zum besten gab (und übrigens auch die Art, wie er sich über sie äußerte, dem entsprach, was er von ihnen hielt); wenn er so jegliches Profil verlor und ich ihn insgeheim den »flachen Franz« titulierte. Beziehungsweise (denn nach wie vor konnte ich jeden Sachverhalt genausogut vom gegenüberliegenden Standpunkt beschreiben), wenn nicht einmal wir, die ihn doch hätten verstehen müssen, uns die Mühe machten, von der glatten Außenseite auf die Härte der Widersprüche zu schließen, die ihn innerlich zerrissen; wir hätten das zum Beispiel daran erkennen können, daß unsere Tatsachen für ihn bloß Meinungen waren, beliebig, auswechselbar, vergänglich, daß Ficken zum Beispiel eine Meinung für ihn war – viel Ärger erwuchs ihm daraus, daß manche Frauen das nicht einsehen wollten; eigentlich alle.

Wenn es aber mit ihm durchging beziehungsweise, so wie er es sah, wenn es ihm so schlechtging, daß er dank der Unfähigkeit und Bequemlichkeit seines Umfelds – derer, die doch zu ihm gehörten und ihn hätten verstehen müssen – unkenntlich und unheimlich wurde, dann, spätestens, wurde ich rehabilitiert; denn so flach ich für mich selbst wirken mochte, geradezu spießig mit meinem Pensionsanspruch und meiner Pünktlichkeit, mit meinem unbändigen Ernst und meiner grenzenlosen Lust zu lernen – im System seiner Meinungen war ich ein exotisches, um nicht zu sagen erotisches Element.

Oder wenn sein Schicksal sich zum Schlechteren gewendet hatte, wenn er tatsächlich auf die Minusseite gerutscht war und ihm einfach soviel fehlte – Geld, Glück, Gesundheit –, daß der Mangel den Anschein der bedachtsamen Lebensweise erweckte, Sammlung statt Verausgabung auf der Tagesordnung stand, um nicht zu sagen Philosophie, dann wurde ich rehabilitiert, und für eine Zeit – bis es ihm besser oder bis es wieder aufwärts mit ihm ging –sah es sogar so aus, als wäre ich ein Eckpfeiler in seiner Existenz.

Auch ihm kam es so vor, kein Zweifel, denn auch er war ein Opfer seiner Ansichten.

Als Meinung geriet ich in den Taumel der Polarisierungen, und es erging mir schlecht. Als Tatsache dagegen war ich ein Puzzleteil unter tausend und – entsprechend wichtig. Hätte ich als einziges Teilchen gefehlt, das Ganze wäre zerstört gewesen. Meine Aufgabe war es lediglich, mich mit der Gleichzeitigkeit der andern Teile abzufinden, mich, um des Ganzen willen, das wir bildeten, mit ihnen zu befreunden, ja mich nach ihnen zu sehnen.

Das war schwer auf der Ebene der fragilen Individualität, auf der Ebene der unzerstörbaren Einzelteile war es ganz leicht.

Ich lernte es, mich für die Frauen zu interessieren, für die sich S. interessierte, und die zu respektieren, die sich für ihn interessierten, und das waren nicht wenige. Dabei folgte ich nur meinem Naturell; denn normalerweise interessierte ich mich für jeden, mit dem ich es zu tun bekam, und hatte regelrecht Mühe, mich nicht zu interessieren. Der Ausschluß von Mitbewerberinnen, die mich womöglich beneideten, deren mißgünstiges Interesse ich zu spüren glaubte, hatte mich gehemmt.

Ich entwickelte die Eigenschaften einer Haremsdame: zutraulich gegenüber anderen Frauen; reizbar S. gegenüber.

Es kam jetzt vor, daß ich in seiner Gegenwart weinte. Früher hatte ich mich über die Frauen mokiert, deren Spielraum so gering war, daß sie immer weinen mußten – konnten sie das nicht auf zu Hause verschieben? Im Grunde neigte ich der Ansicht von S. zu, der sich von Tränen erpreßt fühlte. Jetzt weinte ich selbst.

Manchmal weinte ich die ganze lange Form hindurch, meistens unsichtbar, dann wurde mir mein verheerender Gesichtsausdruck zum Vorwurf gemacht – »Lächeln!« –, gelegentlich auch in aller Offenheit, und dann sagte niemand mehr etwas, nicht einmal S., obwohl er vielleicht der einzige war, der es merkte. Ich ließ die Tränen rollen und wischte sie nur, wenn es als Teil der Bewegung aufgefaßt werden konnte und die flache Hand ohnehin schützend am Gesicht vorbeistreifte, rüde ab, woraufhin sie in rascherer Folge purzelten und ich zu tun bekam. Solange ich, als stabile Säule rechtsaußen postiert, mich der gekalkten Wand zuwenden durfte, genoß ich meine Unsichtbarkeit und hoffte, wenn ich mich umdrehte, die andern mit sich selbst beschäftigt zu finden und S. ich will nicht sagen ebenfalls weinend, aber träumend, innerlich gar nicht vorhanden. Allmählich glitt ich selbst vom Weinen ins Träumen hinüber und von meinem Traum in die Form, ihr in der Bewegung Geträumtes. Unwillkürlich verlagerte meine Aufmerksamkeit sich von der Seele ins Innere der Gelenke – da wo sie drehen –, und ich übte auf diese Weise: loslassen.

Wenn die Augen wieder blank geworden waren, blickte ich auf eine in traumhafte Nähe gerückte Szenerie mit wirklichen Menschen. Und wie nach einem Unwetter, so sprang hier und da erleichtertes Plaudern auf: die Form war zu Ende, man durfte wieder reden! Ganz Mutige zogen sich in den Teewinkel zurück.

Ich ließ mich fallen. Sackte an der Stelle in mich zusammen, wo die Bewegung zu Ende gegangen war – ziemlich genau da, wo sie begonnen hatte – und streckte die seltsam abgekoppelten Beine von mir weg, die Arme über den Kopf, und sperrte Augen und Ohren auf, damit mir nichts von der Bildhaftigkeit dieser Szene entging, deren klare Schönheit nach der Art der Träume war: nämlich mit einer unbegreiflichen Emotion verknüpft, bei der es sich nur um das Selbstgefühl der Szene handeln konnte; anders war sie nicht zu erklären.

Ich nahm an der Unterhaltung nicht teil. Keine Macht der Welt hätte mir einen Ton entlockt, hatte ich in dem Moment doch nicht die Verfügung über meine Kehle und weil die anderen für mich redeten; sie übersetzten mein Schweigen, und ich lauschte.

Es ging um die banalsten Dinge, nicht selten auch um Grundlegendes in einer banalen Form; kurz, um das Hier und Jetzt der menschlichen Rede. Ich war glücklich, daß ich daran teilnehmen und daß ich mich vertreten lassen konnte. Irgendwie empfand ich mich sogar als das Herz der Aktion, als Schamane.

Nach solchen Abenden fand ich die Atmosphäre zu Hause geklärt. Auf den ersten Blick erkannte ich: mein Zimmer war nicht mit Fetischen, sondern mit Gegenständen möbliert. Alles war an seinem, nichts am festen Platz.

Die Papiere auf dem Schreibtisch mußten für die Oliven zusammenrücken; die Füße sich arrangieren.

Beim Schlafengehen bettete ich den Kopf zum offenen Balkon hin, ans Fußende; ich konnte das Lüftchen spüren. An einem Olivenkern lutschend, las ich ein paar Takte, legte dann das Buch beiseite und spuckte den Kern aus. Wenn ich nachts aufwachte, würde ich weiterlesen.


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