Ilse Bindseil

Geschichten vom Schutz

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(27) Faro erinnert sich

Manchmal war sie in meinen Armen wie ein nacktes Vögelchen. Ich mußte warten, bis sie geschlafen hatte, und möglichst auch, bis ich geschlafen hatte, und wenn ich dann mitten in der Nacht erwachte, ging von ihr die Wärme einer erwachsenen Frau aus, und wenn ich meine Hand ausstreckte, stieß ich auf Rundungen, die ich bei ihr nicht erwartet hätte, auf ruhige, schwellende Fülle, und ihr Atem ging mal leicht, mal schwer, wie der Atem des Meeres.

Aber wenn ich sie am Tag umarmte, dann zappelte sie, und ihre Haut war die einer nackten Maus; sie roch kalt und feucht, und ihre Knochen staken überall heraus. Sie behauptete, daß der Atem der vielen Menschen, mit denen sie tagsüber zu tun hatte, auf ihr kondensierte. Davon fror sie, und sie musterte mich, als wäre ich auch einer von diesen Menschen. Ich mußte warten, bis sie gebadet und sich aufgewärmt, ein Kapitel gelesen und möglichst eine Runde geschlafen hatte. Dann fing sie an zu schwellen, und wenn sie sich auf ihrem Ellbogen aufrichtete und ihre neugierigen Augen auf mein schlaftrunkenes Gesicht heftete, dann sah ich, daß auf ihren Wangen, die mit den Jahren schmaler geworden waren, sich kindlich der Flaum bauschte. Und wenn sie sich dann noch mit ihrem ganzen schmächtigen Gewicht auf meine Brust sinken ließ, wurde mir die Lunge eng, und ihre Haare fielen mir ins Gesicht und kitzelten mir den Bart. Ich spürte, wie mein männlich gewölbter Brustkorb, auf den ich nicht wenig stolz war, nachgab und meine Muskeln weich wurden; wurde selbst ganz weich, ganz weiblich, während sie schwerer wurde, wärmer, kräftiger, und auf mir lastete.

Wenn sie Zeit gehabt hatte, sich auszuruhen, dann fielen die Tagesreste von ihr ab wie vollgesogene Egel. Ihr Äußeres, immer schon schwankend, wonach es sich richten sollte, gab die armselige Vertretung der Wirklichkeit auf und organisierte sich neu, von innen heraus. Leider war das ein beständiger Kampf, in dem wir uns aufrieben, sie und ich, ich sowieso und sie auf ihre ganz persönliche, verzweifelte Art auch, wobei man den Grund nicht einsah. Aber sie kämpfte wie ein Löwe, so klein sie war, auch gegen sich selbst, wogegen ich den Kampf immer schon verloren hatte, hin- und herschlug wie ein loses Tauende. Sie dagegen lehnte es strikt ab, die Beute von irgend jemand zu werden, und sei es die eigene Person, oder einem andern Zugriff auf sich zu gestatten – lieber verzichtete sie selbst auf das Paßwort und fand ihre Identität darin, sich in der Verteidigung von etwas aufzureiben, von dem ihr weder die Kontur noch die Substanz bekannt war; nur daß es ein Interesse allererster Ordnung war.

Manchmal konnten wir den Kampf vorübergehend zu unsern Gunsten entscheiden, wenn auch nicht aus eigener Kraft. Es mußte uns etwas zu Hilfe kommen, ein starker Trieb, aber ihm wiederum mußten wir zu Hilfe kommen, ihm Stille und Raum verschaffen, damit er seine Kraft entfalten und uns mit Gewicht versehen, uns die nötige Zentrierung geben konnte. Denn die Beine in den Boden stemmen nützte nicht viel, wenn die Welt an uns riß, und solange wir von uns ausgingen, schafften wir es sowieso nicht. Erst wenn wir das Heft aus der Hand gegeben und uns in die lachlustigen Zuschauer dessen verwandelt hatten, was mit uns abging, erwuchsen uns neue Sinne, Tastsinne, und es änderte sich auch unsere Zusammensetzung; wir, die hin- und hergeschleuderten Spielbälle des Schicksals, wurden zur Brutstätte.

Manchmal wartete ich nicht geduldig ab; weil ich keine Lust auf eine große, alles umkrempelnde Liebe hatte, sondern einfach ficken wollte; oder weil mir das Unzureichende an ihr auf die Nerven ging, das Mickrige und Magere, das Hungrige und Bedürftige, das schlecht Gelüftete und mies Durchblutete, und ich keine Lust hatte, mich erst verausgaben zu müssen, um dann empfangen zu können. War ich nicht ein Mann? Durfte ich nicht Ansprüche stellen? Mußte ich erst geben, bevor ich bekam? Manchmal nahm ich sie so, wie sie von draußen hereinkam, übelriechend, unkonzentriert; nicht geradezu feindselig, aber abgelenkt und in ihren Gefühlen gewissermaßen schlecht sortiert, nicht auf den Punkt zu kriegen; körperlos oder geistlos, wie man will, es stimmte alles nicht. Ich nahm sie, und das Vergnügen war gering, das heißt männlich, nicht ohne Selbstbestätigung, irgendwie tautologisch, ich will sagen nicht übel. Gestärkt ging ich daraus hervor; jedenfalls mit erhobenem Haupt.

Und sie? Auch irgendwie gestärkt.

Alles hing davon ab, daß ich geduldig wartete, wenn sie den Geruch der fremden Leute mitbrachte und ihr fremdes Gerede, wenn eine unangenehme Lebhaftigkeit von ihr ausging, eine nervöse Sachlichkeit von ihr abstrahlte, eine entfremdete Nüchternheit sich ausbreitete; wenn sie, kaum hereingekommen, sich schon wieder abkapselte, in sich verkroch, an sich herumschnüffelte wie ein Köter, mit den Fingerkuppen über ihre Arme fuhr, bis die Härchen sich aufrichteten und sie an Volumen gewann, so daß sie auch für sich sichtbar wurde. Es war bei ihr nämlich so, daß sie einen andern nur zur Kenntnis nehmen konnte, wenn sie sich selbst zur Kenntnis genommen hatte. Wenn sie von sich eine Vorstellung entwickelt hatte, dann bekam sie eine Vorstellung auch von ihm (oder erst dann konnte sie sich vorstellen, daß zwischen ihnen etwas passierte).

Wartete ich das alles geduldig ab, wurde ich reichlich belohnt. Kaum hatte sie die Überprüfung erfolgreich abgeschlossen, hatte sie nichts anderes im Sinn, als sich in andere Hände zu geben. Warum? Weil sie sich in dem Moment herrlich fand? Sie war imstande. Sie hatte das Lebendige an sich gespürt, das Vergängliche, und wollte den Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen, sondern das Fest der Sinne feiern. Und wehe, ich hatte die Zeit nicht genutzt, um mich meiner zu vergewissern so wie sie, am besten indem ich mich zu ihr legte und einfach eine Runde neben ihr schlief, so daß ihr Geruch sich unbeachtet in meine Nase stehlen und ihre Wärme von mir Besitz ergreifen konnte – wenn ich dann aufwachte, waren wir schon hoffnungslos vermischt und, was Individualität anging, das Recht auf die Unversehrtheit der Person, kompromittiert.

Aber wehe, ich hatte mich nicht von allem Irdischen gelöst, von allen Bezügen, und war wie neugeboren. Dann wurde sie mir unheimlich, und das war ewig schade und ein Armutszeugnis obendrein, und es wäre besser gewesen, ich wäre mir unheimlich geworden als, im Zustand der vollkommenen Hingabe, in dem sie sich befand, sie.

Es war, als hätte ich meine Unschuld verloren.

Manchmal bist du mir unheimlich, sagte ich, und diese unbedachte, aber ehrliche Äußerung markiert den Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf wir auseinandertraten, Erwachsene wurden, Einzelne.

Sie war nicht beleidigt, aber erschrocken und verstört, und sie verstand überhaupt nicht, was ich meinte. So weit, wie wir uns zusammen vorgewagt hatten, hätte sie sich allein nie getraut. Daß ich jetzt einen Unterschied machte zwischen ihr und mir, machte sie wehrlos. Wenn sie mir unheimlich war, dann war sie es sich auch!

In ihr grummelte es. Ein oberflächlicher Beobachter hätte meinen können, sie schämte sich.

Du mußt auf dich achten, sagte ich. Es kann nicht sein, daß du dich völlig preisgibst.

Sie verstand gar nichts mehr. Vor wem sollte sie sich in acht nehmen? Ich war doch ich!

Du darfst dich nicht so aufgeben, sagte ich.

Sie runzelte die Stirn. Wollte ich sie warnen? Vor mir? Sie versuchte sich zu besinnen. Aber sie brachte keine Ordnung in ihre Gedanken.

In ohnmächtigen Worten versuchte ich ihr klarzumachen, daß andere Männer anders waren als ich. Sie zog ein T-Shirt über, obwohl die Luft im Zelt stand.

Abends, mitten in der Unterhaltung über den Ausflug vom Tag, sagte sie:

Ich finde schon noch jemand, dem ich nicht unheimlich bin.

In dieser Nacht gab sie acht auf sich, obwohl ich sie weckte. Wie stets mußte ich mich meiner Körperteile vergewissern; denn ich hatte mich zwischen ihren verirrt und war über die Besitzverhältnisse vollkommen ins unklare geraten: war das meine Hand, mein Bein? Und dieser Arm, unter dem ich Zuflucht genommen hatte vor einem schlimmen Traum – war es möglich, daß es nicht meiner war? Sie zog ihn weg und ich unverdrossen hinter ihm her, nur darauf bedacht, nicht leichtfertig aufzugeben, was ein Teil von mir war. Die kleine Meinungsverschiedenheit vom Tage hatte meiner Symbiose keinen Abbruch getan.

Manchmal in solchen Nächten war sie wie in einem süßen, trägen Entschluß umgekehrt, hatte die zielstrebige Flucht über die Bettfläche aufgegeben und sich mir zugewandt, sich mit ihrem gewaltigen, durch Geruch und Wärme aufgepeppten Gewicht auf meine schlaftrunkene Brust sinken lassen, zweifellos, um mich zu ersticken. Ja manchmal hatte sie mir aus lauter Übermut die Kehle zugedrückt, und ich konnte uns prima unterscheiden: sie lastete auf mir, und ich drohte zu ersticken! Da wir nun schon so lange eins waren, wußte ich genau, was sie spürte, und empfand nicht anders als sie und hatte meine helle Freude an mir; sie aber versuchte unverdrossen, mir die Kehle zuzudrücken. Nicht selten, ich geb's zu, wurde mir angst und bange, weil der Rollenwechsel gar zu perfekt funktionierte, und dann juchzten und kicherten wir.

In dieser Nacht aber hatte sie acht auf sich, und ich umarmte eine fremde Frau. Das war auch süß; denn sie begehrte mich. Sie stieß mich nicht zurück, und es war auch nicht so, daß sie mich bloß ertrug. Vielmehr war es die erste richtige Umarmung seit zehn Jahren, die von Erwachsenen. Bloß ich war leider nicht erwachsen und bekam Lust zu weinen, und sie war auch nicht erwachsen und weinte wirklich, aber nicht so wie sonst, wenn wir nicht wußten, ob es ihre oder meine und ob es Weintränen oder Lachtränen waren. Vielmehr waren es ganz allein ihre, und sie waren ausschließlich geweint. Sie kamen vom Kummer. Sie kamen vom Alleinsein. Ich stieß sie in diese Einsamkeit hinein, und das war schlimmer als in der Wüste rufen.

Die Nacht nahm uns gnädig auf, in dieser Nacht. Sie robbte zu mir hinüber, damit ich sie tröstete, und ich hinüber zu ihr. Beide empfanden wir das Glück, in unserer Einsamkeit nicht allein zu sein und in diesem schrecklichen Kummer getröstet zu werden.


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