Ilse Bindseil
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Das 19.Jahrhundert lastet auf ihr; schwer drückt es sie herunter.
Vor lauter Verzweiflung hat sie eine Erziehungstheorie entwickelt, eine Generationentheorie, eine Epochentheorie. Da ihr Vater nicht von seinem Vater, sondern von seinem Großvater erzogen worden ist – einem alten Mann oder vielmehr »altem Herrn«, als Geheimrat von Natur aus eine geheimnisvolle Synthese aus Paragraph und Mensch, aus Launen und Erkenntnissen, bis ins hohe Alter voller Freßlust und Wissensdurst, mit gleichbleibendem Appetit auf fremde Sprachen und deutsche Kartoffeln –, also von seinem Ziehvater her betrachtet ein echtes Kind des 19.Jahrhunderts ist, ist sie selbst mit dem 19.Jahrhundert unmittelbar verbunden. Was man als Vater weitergibt und was ihr Vater an sie weitergegeben hat, Bücher, Bildung und Maximen, das stammt da her.
Da der NS mit der Moderne und der Kriegsausgang mit dem NS aufräumte, konnte ihr Vater sein Kind nicht anders als im Geist des 19.Jahrhunderts erziehen; in der Rückwendung auf Gestalten und Bilder, Erinnerungen und Maximen, ›Denkwürdigkeiten‹ jeglicher Art.
Sie liest Gustav Freytag und Gustav Frenssen, auch Friedrich Gerstäcker, Namen, die man ihrer verwirrenden Lautfolge wegen kaum auseinanderhalten kann. Ihre Bildung bezieht sie aus Büchern; Bilder gehören nicht dazu, höchstens Illustrationen, die so fein gestrichelt sind, daß ihr Auge versagt und ihr ästhetisches Empfinden beleidigt ist; sie riskiert keinen Blick. Die Bücher erzählen, was andere gedacht und geforscht haben; sie nimmt es als Versprechen ihrer eigenen Größe. Sie liest Mikrobenjäger – aber den Brehm läßt sie aus, so wie sie manches ausläßt, was schon der Vater ausgelassen oder aus irgendeinem Grund nicht für gut befunden hat –, Die Kaiserin Theophanu und Adelheid, Mutter der Könige, aber nicht Ein Kampf um Rom. Sie lernt nicht, sondern sie träumt, auch wenn andere staunen, was sie liest und es nicht für möglich halten würden, daß man über so trockenem Zeug träumen kann. Für sie ist es ein erhabenes ›Künden von‹, zu dem sie den Trieb liefert, so daß sie unwillkürlich meint, es müsse sich um eine erregende Botschaft handeln.
Von einem leichenhaften Jahrhundert geprägt, wird sie ein Leben lang eine Zuneigung für armselige, in ihrer Herzensbildung verkümmerte Menschen empfinden. Je armseliger sie sind, um desto vielversprechender kommen sie ihr vor.
Nur mühsam hält sie sich zurück. Das ist ein ganz dürftiger Mensch, sagt sie sich. Es gibt andere, lebendige. Nimm die!
Aber wenn sie an die überwachen Nächte heimlicher Lektüre denkt, dann erscheint ihr nichts lebendiger als solch papierenes Erlebnis.
Was die Maximen betrifft, so ist es bei aller Konjunktur Essig damit, fehlt doch die unabdingbare Überzeugung, daß persönliches Glück und allgemeine Wohlfahrt aufeinander angewiesen sind. In stundenlangen Monologen hat der Vater ihr die Tragik von Personen, Feldzügen und diplomatischen Verwicklungen erläutert. Friedrich II., Bismarck, Hindenburg, soviel begriff sie, waren groß nicht bloß, weil sie das private dem öffentlichen Glück opferten, in dem Maß vielmehr, wie sie anstelle des Glücks – Größe installierten.
Sie lernt es nicht, achtsamen Umgang mit sich selbst zu pflegen; wo es um Größe geht, zählt das Kleine nicht. Sie versäumt es, die entsprechenden Vorstellungen auszubilden; denn mit Anspruch ist es hier nicht getan, man muß sich auch etwas vorstellen können. Ebensowenig lernt sie, mit ihrem Erfolg eins zu sein; sie merkt es nicht einmal, wenn ihr etwas gelingt, geschweige denn, daß sie es würdigen kann. Hans im Glück ist für sie der Inbegriff einer lächerlichen Figur, ein Idol für Mittelmäßige und Langweiler, als Schicksal eher ein Stigma als eine Auszeichnung. Zwar ist sie ängstlich von Natur, aber felsenfest davon überzeugt, daß Größe und Ängstlichkeit den innigsten Zusammenhang bilden, letztere bereits den Keim der Größe in sich trägt, erstere ihr Charisma der Angst verdankt, nicht der besiegten, sondern ihr als der Grundstimmung der Größe.
Später, als sie in dem Alter ist, wo man sich beschweren kann, wird sie Ursachen benennen, Schuldige suchen. Aber die Ursachen erweisen sich als von eigentümlicher Haltlosigkeit. Sie gehören noch auf die Seite dessen, was sie bewirkt haben sollen, sind Hirngespinste und Halluzinationen. Und was die Erziehungspersonen betrifft, so sind sie sich »keiner Schuld bewußt«. Sie ist außer sich: Wie kann sich jemand an seine eigenen Prinzipien nicht erinnern! Es sei denn, dunkel geht es ihr auf, sie hätte die Situation falsch verstanden, nicht nur die andern wären nicht schuld, sie selbst käme als Verursacher infrage. Sie hätte zuerst die Prinzipien hervorgebracht und sich sodann von ihnen einschüchtern lassen. Oder sie hätte als einzige an sie geglaubt; was auf dasselbe hinausläuft.
Was für andere alles mögliche gewesen ist, das hätte sie als Prinzipien aufgefaßt. Und hätte daran wie an Prinzipien geglaubt.
Die Unschuldslämmer schwören Stein und Bein, es sei gar nichts gewesen: eine Laune oder ein Einfall, eine dumme Bemerkung. Vielleicht haben sie ja die berühmten Augenbrauen gehoben und das Gesicht verzogen, aber nur wegen der Sonne oder wegen der Sorgen. Grund gab es immer, die Stirn in Falten zu legen. Nur sie hat alles wörtlich genommen.
Ja, vielleicht haben sie sogar mit dem Finger gedroht; sie fand, nicht bloß in Ankündigung, sondern in mystischer Vorwegnahme der Strafe. Haben ihn, einem Zeiger gleich, von links nach rechts und zurück bewegt, und sie, fasziniert, war wie hysterisch gelähmt.
Gott Vater hätte es nicht besser vermocht, oder an ihn wurde nicht gläubiger geglaubt als an diese Autoritäten.
Als sie längst erwachsen war, hat ihr noch einmal jemand mit dem Finger gedroht. Sie hatte heiße Asche in den Mülleimer gekippt.
Der Mann hatte ja so recht, aber er war für sie erledigt.
Alles spitzt sich auf den Vater zu. »Er ist Herr über …« »Er gebietet den …« Tut ihr leid, daß sie KZ und Familie nicht auseinanderhalten kann. Heimelig ist beides. Der Vater ist immer gewiß.
Wo kommt die Macht des Vaters her? Woher kommen die Normen?
Im 19.Jahrhundert werden Ethos und Moral geboren. Tatsachen entstehen als eine Melange aus Wissen und Metaphysik. Als eine Melange aus Gefühlen und Tatsachen entstehen Normen. Als eine Melange aus Wissen und Normen Einsichten; und unter der Wucht der metaphysischen Einheit von Wissen und Norm schließlich Gefühle.
Sie ist das Alter ego des Wahns, die Antwort im stimulus-response-System, womöglich sogar stimulus, Reiz.
Sie selbst sieht sich eher als response: Auf Tatsachen reagiert sie mit Metaphysik. Wo Erkenntnisse am Platz wären, da bildet sie Normen aus. Wo es um Einsicht ginge, da antwortet sie mit Gefühlen, reagiert mit einem ›Zusammenbruch der Ich-Organisation‹, an überwältigenden Sachverhalten so das Überwältigende hervorhebend.
Bis zu Einsichten bringt sie es nicht – immer wird sie vorher überwältigt.
Später, wenn sie es zu Einsichten bringt, werden sie sämtlich auf Sphärentrennung zielen, auf Begrenzung. Sie wird sich für die theoretische Natur von Gedanken starkmachen. Sie wird gegen ihre Anwendbarkeit argumentieren. Dagegen polemisieren, daß aus ihnen irgend etwas anderes folgen kann als der Verzicht auf Eingriff und Übergriff. Zur Ruhe kommen, sich bescheiden, die eigenen Grenzen nicht überschreiten und auf der andern Seite das Gegebene entzerren, auch räumlich, jegliches Ineinander, Miteinander und Gegeneinander im Nebeneinander zur Ruhe bringen. Die Dinge nicht bloß sortieren, wie gesagt, sondern entzerren: das wäre die Anwendung der Einsicht.
Im 19.Jahrhundert trennt die Norm sich von den Tatsachen und wird selbst zur Tatsache. Verstand und Vernunft koppeln sich voneinander ab, verdoppeln sich durch Substitution, jedes Glied bildet das Fehlende aus, die Vernunft die Moral, der Verstand das System. Wissen und Weltanschauung bilden zusammen den systematisierten Wahn.
Kein Wunder, daß es sich um das Jahrhundert des Positivismus handelt. Um das Jahrhundert des Kantianismus. Das Jahrhundert Daniel Paul Schrebers. Kurz, um ein denkwürdiges Jahrhundert.
Von der essentiellen Spaltung mal abgesehen, sind sie ganz nah beieinander: Schaufel und Feder, Fälschung und Original, das Meßinstrument und die Interpretation, die alles entstellende Deutung. Noch die papierenste Norm wird lebendig; sie fängt wahrhaftig an zu blühen!
Diese Nähe bewirkt, daß alles irgendwie verrückt und zugleich eine greifbare Tatsache ist.
Wie kommt es, angesichts so versteinerter, zitat- und kalauerhaft geronnener Verhältnisse, dazu, daß auf sie kleines Mädchen noch der platteste Spruch wie ein Gedankenblitz wirkt?
Wie kommt der Transfer zustande?
Der Vater ist sicher der einzige, der ihr was zu sagen hat. Aber andere können ihr etwas erzählen.
Dem Vater, so exakt er in seinen Schilderungen ist, kann sie schlecht folgen. Sie kann sich sehr schlecht konzentrieren. Dabei ist er so exakt in der Darstellung von Frontverläufen oder mathematischen Gleichungen, daß man nicht weiß, folgt er dem Finger an der Windschutzscheibe, mit dem er sie aufzeichnet, oder folgt der Finger ihm?
Sie folgt mit Sicherheit nicht.
Er ist allgegenwärtig. Aber leider kann sie ihm wahnsinnig schlecht zuhören; je mehr er redet, desto schlechter. Er predigt, so nennen sie das in der Familie. Er macht den Boten einer untergegangenen Welt, die für ihn höchst lebendig ist, er denkt, durch ihn höchst lebendig wird. Leider kommt die Botschaft bei ihr nur verschwommen an; sie hört sie, aber sie versteht sie nicht. Meistens, wenn der Vater predigt, überkommt sie ein dringendes Bedürfnis, aber sie traut sich nicht. Höllenqualen erleidet sie, während der Vater redet und redet.
Obwohl er durchaus einen Hang zum Examinieren hat, weiß er instinktiv, daß es in solchen Augenblicken besser ist, nicht zu fragen, ob sie die Details behalten und den Zusammenhang verstanden hat.
Besser für die Erzählung.
Was die andern erzählen, Oma, Großtante, Tanten, das speichert sie Wort für Wort, und dabei erzählen sie es nicht ihr, sondern unter sich. Sie kann sich glücklich schätzen, wenn an ihrer Anwesenheit kein Anstoß genommen wird, sobald die Rede aufs Wesentliche kommt, auf früher, auf die Heimat, darauf, daß »erst die Russen und dann die Polen uns alles genommen haben«. Sie begreift, daß ›der Zusammenbruch‹ aus wohlhabenden Leuten arme Leute gemacht hat, aus Bürgern mit behaglichem Haus, Adresse »Am Ring«, und von beachtlichem Leibesumfang, Vertriebene, Flüchtlinge ohne Hab und Gut, aus Herren Heimchen im Hinterzimmer, in der Küche, im Oberstock; da grollen und grollen sie, und wenn sie einmal guter Dinge sind, erinnern sie sich an früher. Sie, eindeutig in den Vorderzimmern zu Hause, aber ihrer Aufsicht und Gnade unterstellt, hat so gut wie als einzige Zutritt bei diesen Erzählungen.
Beiläufig erfährt sie, daß nichts von dem, was ihre mütterlichen Großeltern besaßen, Bestand hatte: Geld, Gesinnung und Besitz; Gold und Schmuck, nicht einmal Immobilien.
Was Bestand gehabt hätte, hatten sie nicht: ein wenig Rest-Jugend, bei einem neuen Lebensaufbau in die Waagschale zu werfen, und vor allem Bildung.
Ihr Vater hat recht, auch wenn sie ihn nicht versteht: wer auf greifbare Güter setzt, ist kurzsichtig, er ist verloren. Sollte ihre ein wenig zurückgebliebene Tante, die Ältere, nicht das Haus und Geschäft erben, und die Jüngere, ihre strahlende Mutter, durfte studieren? Ist dieses Studium nicht ›gerettet‹ worden, Haus und Geschäft dagegen sind perdu? Ist ihre Tante nicht kindisch geblieben?
Nur der Geist überlebt. Er zählt, nichts sonst. Grammatisch ist er übrigens singularis maiestatis, natürlich männlich, oder die Einzahl der Substanz, der ›nicht teilbaren Menge‹, und selbst eine Gestalt oder eine ›Denkwürdigkeit‹.
Nur der Geist ist es wert, daß man über ihn nachdenkt. Er ist es wert, daß man ihn sinnend betrachtet. Sinnend betrachten, das ist seine ureigene Tätigkeit.
Ein bißchen geklittert ist diese Version schon. Hätte ihr Vater es denn jemals zugelassen, daß die Mutter sich selbständig machte? Er ist selbst zu sehr ›Denkwürdigkeit‹, um seine angebetete Frau in einer anderen Funktion als der so erhabenen wie verächtlichen seiner rechten Hand arbeiten zu lassen, als Mädchen für alles, Aber sie, die Töchter, hatten eine studierte Mutter!
Für sie, die wiederum Jüngere, ist es, wie wenn das Studium die Wirklichkeit verkörperte. Später wird sie sich gezielt auf die abstraktesten Fächer werfen, wenn auch nur in Gedanken. In der Abiturientenliste der Zeitung wird bei ihr als Studium ›Geisteswissenschaften‹ firmieren; daß sie in den Naturwissenschaften unbegabt ist, untermauert ihr Talent in den anderen. Als Berufswunsch wird sie in einer denkwürdigen Unterhaltung ›Privatgelehrte‹ angeben, in einem Anfall geistiger Umnachtung, zweifellos; vielleicht sagt sie sogar ›Privatgelehrter‹, imstande wäre sie dazu, und sie sieht den Gesprächspartner noch zurückzucken, einen würdigen Herrn im gesetzten Alter, der vermutlich ähnliche Ambitionen gehabt hatte wie sie und der sagen wir Moderator geworden war. Sie wußte übrigens nicht, was ein Privatgelehrter ist und ob es das gab. Sie kannte lediglich das Wort; so war das immer bei ihr. Sie kannte sehr viel mehr Wörter als Sachverhalte oder Tatsachen, und, man muß es zugeben, immer noch sehr viel mehr Wörter als Bedeutungen. Mit ›Privatgelehrter‹, diesem exquisit bedeutungsvollen und sacharmen Wort, wollte sie auch nur ausdrücken, daß ihr der Sinn nicht nach Anwendungen stand. Daß ihr nichts so fern lag wie Gelehrsamkeit, war schon schwerer zu erklären, aber in der Bibliothek wurde ihr schwindlig wie weiland in der Heiligen Messe und sie war auch nicht imstande, ein Buch korrekt zu bestellen, und lernte es nicht –wenn es dann doch in ihre Hände gelegt wurde, staunte sie es an, als wäre es der Mensch gewordene Christ. Dabei war es nur der Wirklichkeit gewordene Wunsch, genannt Bestellung.
Wissen um des Wissens willen, darin sah sie nie einen Sinn. Die Zahl der Wunder zu verringern, darauf kam es nicht an, im Gegenteil, die Wunder zu erhalten, darum ging der Kampf; dem Wissen jenen Dreh zu geben, daß es die Sphäre des Staunens nicht beeinträchtigte. Das wurde mit Spinnerei auf Seiten des Gegenstands oder mit Desorientierung auf ihrer Seite bezahlt; letzteres nahm sie in Kauf, es war unvermeidlich. Sie ertrug es, daß sie verwirrt war, aber Unexaktheit im Denken war ihr unerträglich.
Hätte sie das Staunen opfern müssen, sie hätte mit dem Denken nicht angefangen. Aber was sie verfolgte, war nicht mehr und nicht weniger als die Quadratur des Kreises. Böse gesagt, es war schon privat.
Mit dem Sinn war sie auf du und du. Aber sie suchte ihn noch. Das Gewisseste an ihm war, daß es ihn gab.
Wie eine List der Geschichte kommt es ihr vor, daß aus der sinnlosen Philologie ein direkter Weg in die Schule führt, wo zwar auch Abstraktes, Verkorkstes und Verschwiemeltes, irgendwie Simuliertes, aber immerhin realen Kindern gelehrt wird. Ihr Berufsleben lang wird sie sich gerettet fühlen, wenn sie in die Gesichter der kids blickt, wenn die sie ansehen. »Auf eine Art« – wie ihr Hamburger Freund, den unbestimmten Artikel und den reinen Modus gegeneinander ausspielend, mit feinem Humor sich ausdrückt –, wird sie sich gerettet fühlen, wenn sie bei ihnen herumlümmelt; auf eine andere Art nicht. Bei ihnen fühlt sie sich angekommen, wie am einzigen Ort auf der Welt, der kein Ziel ist. Oder wie soll man Heranwachsende, die jeden Tag anders drauf sind, als Ziel bezeichnen?
Mit Kindern, das ist wie mit Außerirdischen leben. Sie repräsentieren eine Welt, die der Fundamente unbedürftig ist. Wenn etwas eine Welt ist, dann braucht es keine Fundamente.
In einer Welt, die keine ist, hat sie es mit den Fundamenten zu tun. Emsig gleitet der Finger ihres Vaters über die beschlagene Windschutzscheibe, zeichnet den Frontverlauf nach. Zweiter Weltkrieg? Erster? Wir sind in den schlesischen Kriegen. Nicht Hitler tritt als Feldherr in Erscheinung, auch kein Wilhelm, sondern Friedrich II, von kompliziertem Naturell; Abgründe tun sich auf, wenn er zu einer Entscheidung finden muß. Respektvoll tastet der Finger über die Abgründe, umringt die Schwachstellen, legt den Finger auslotend in die Wunde: hier wird die Schlacht stattfinden, der Gegner die Überzahl, Friedrich Beweglichkeit ins Feld führen. In der konventionellen Schlacht verbinden sich Mathematik und Urteil zu höherem Spiel. Wenn man es schafft, den zwingenden Schluß zu widerlegen, ist man unbesiegbar, wenn man es schafft, die Flanke des Gegners zu umgehen, hat man gewonnen. Das Prinzip heißt Beweglichkeit. Es bedeutet: kein Respekt vor den Grenzen! An den Zahlen, das versteht sogar ein Kind, kann man nichts ändern. Aber wer sich im Raum zurechtfindet, bricht die Überzahl; abgekürzt gesagt und weil wir ja nicht die schlesischen Kriege nachspielen wollen, am neuralgischen Punkt und im richtigen Augenblick greift Friedrich an.
Es ist ein Geheimnis um die Entscheidung. Ihrem Vater, der die Zahlen liebt, fehlt es an Kampfgeist, wenn auch nicht an Vorstellungsvermögen, auch nicht an geistiger Beweglichkeit, aber an Aggressivität; ihr, die immer getrieben wird, immer nur ausführen muß, fehlt es an Entschlußkraft. Die Entscheidung, das ist für sie ein böhmisches Dorf. Wenn es sie überhaupt gibt, dann siedelt sie nicht so sehr an der Grenze zwischen Vorsatz und Tat als vielmehr an der Schnittstelle zwischen öffentlichen und privaten Beweggründen. Sie begreift nicht, wie die beiden ins Verhältnis zu bringen sind. Obwohl sie im wahren Leben ja auch vorkommen, aber nicht als ›Gründe‹, sondern als Leben, irgendwie ineinander vermengt. Aber noch das evoziert die falsche Idee; sie kommen eben bloß vor. Für sie, Kind Sigmund Freuds, sind die privaten Beweggründe die Wahrheit der öffentlichen; Kind der 19.Jahrhunderts, das in strata denkt, ist ›sub‹ die Wahrheit von ›supra‹. Öffentlich, das braucht kaum hinzugefügt zu werden, ist supra, darunter liegt sub. Wer ihren jeweiligen Anteil abwägt, der hat das Prinzip des Schürfens nicht begriffen. Das Analytische – sagt sie im Brustton der sittlichen Überzeugung – besteht darin, was sich im trügerischen Nebeneinander darbietet, in sein gehöriges Untereinander zu bringen; mit Glacéhandschuhen geht es nicht. Wer die Dinge unsortiert, in bedrängender Gleichrangigkeit, bedrängender Gleichzeitigkeit erlebt, hat es »auf eine Art« leichter. Wer sie begreifen will, braucht sie dafür nicht zu leben.
Vielleicht ist ja jeder echte Mann ein Spießer; ihn kümmern die Tatsachen, die inneren Anteile nicht. Vielleicht ist es die Aufgabe der Frau, dem Spießigen Sinn zu geben, ihm jenes Quentchen lebendiges Gefühl hinzuzufügen, das den Sachverstand als menschlichen Verstand identifiziert, die Tatsachen als Leben; das sie mit Geburt und Tod zu identifizieren erlaubt. Unklar bleibt, ob bloß hinzufügen oder verwandeln gemeint ist, die Frau mag es als Verwandeln deuten, der Mann als Hinzufügen. Alles, was er mit ihr tut, tut er mit Motivation, was er ohne sie tut, ohne.
Sie, Vaters Tochter, ist zwei Instanzen in einer Person oder zwei Geschlechter. Sie bildet sich ein, daß die Bestimmung des Paars nicht in der Arbeitsteilung oder -zusammenführung liegt. Sie findet das Additive daran spießig, das Trennende deprimierend. Das Werden der Dinge ist von dem der Personen unterschieden. Dinge entstehen, Personen verwandeln sich. Daß sie, die Frau, die Verwandlung anstoßen soll, daß sie der Antrieb sein soll, die ewige Motivation, damit will sie sich nicht zufriedengeben. Sie weiß, wie armselig ein Leben ohne eigene Schwerkraft ist, wie haltlos ohne dieses begründungslose Sein, dieses sture »Hier bin ich«; wie man ständig aus der Puste gerät. Sturheit ist erhaben, aber sie ist auch genierlich, beinahe lächerlich; es fehlt an diesem filigranen »soviel ich weiß«, »ja, früher dachte ich« oder »ich, in meiner Unschuld«, »ich, wieder mal«. Ist es doch soviel lebendiger als das klobige »ist«, diese immer irgendwie gedoppelte Verkündung von Tatsachen (die, soviel ist sicher, als Tatsachen sich selbst verkünden würden).
Und wenn man dann noch bedenkt, daß gemeinhin die Frau als Trägerin von Sein gilt und der Mann als Verkörperung des Werdens! Sein ist, und Werden ist nicht, und sie weiß, daß sie nicht ist. Immer wird sie sich an einen Mann halten müssen, um zu sein. An seinem Sein partizipieren heißt zur Existenz gelangen. Vielleicht ist das ja die realistische Ausführung der Bestimmung ›Vaters Tochter‹; ihr erscheint es wie die simple Wirklichkeit. Sie wird es verabscheuen wird, am Mann herumzuzerren und -zuwerkeln, wie ihre Mutter ein Leben lang an ihrem Mann, und auf ihn einzureden, immer wird sie daran festhalten, daß er das Sein ist und sie das Nichts und sich in dieser Konstellation lebendig fühlen, so als stünden ihr alle Chancen der Welt offen; er wird bei soviel nackter Gläubigkeit gar nicht wissen, was er eigentlich soll.
Da sie auf Funktionsteilung besteht – er Sein, sie Sinn oder insofern doch er Werden, sie Sein –, zugleich als Bedingung ihres Sinns und, wie sie meint, Gipfel seines Seins die Aufhebung dieser Teilung, Einswerden sans phrase und ohne Einschränkungen, ein bedingungsloses unisono proklamiert, muß sie sich kräftig ins Zeug legen, bleibt ihr doch nichts anderes übrig, als die Vereinigung für ihn mit zu bewerkstelligen, auch wenn sie das Frust kostet; denn im Grunde ist es nur echt, wenn es ihr geschieht, wenn er aufhebt. Widerstrebend räumt sie ein, daß die wirkliche Einheit nicht sein Konzept ist, die prätentiös behauptete um so mehr; das Hohelied der stillen Hingabe singt er ungeniert, dafür ist er sich nicht zu gut, will sagen, zu skeptisch. Aber immer wird sie der Überzeugung sein, daß nicht sie es ist, die Sein und Sinn zusammenbringt; daß sie nur Werkzeug ist. In unverbrüchlicher Treue steht sie auf Seiten jenes krüppeligen Modells Mann, der nur Sein ist; wenn nicht aus Masochismus, dann vielleicht aus originalem Interesse am fremden Geschlecht, so als wäre der Unterschied die Voraussetzung für die Einheit und nicht umgekehrt Einheit die Voraussetzung für die ungestörte Existenz des Unterschiedlichen als Unterschiedliches. Sagt der Mann nicht ganz ungeniert »die Frau ist nicht zu Hause«, wenn man an der Tür klingelt, und denkt sich nichts dabei?
Das Kugelwesen kommt ihr in den Sinn. Natürlich entspräche es haargenau ihrer Vorstellung, aber das tröstet sie nicht. Sie findet keine Bestätigung darin. Es ist etwas Inzestuöses dabei oder ganz einfach ein Trick; so als ginge es auf ihr Konto beziehungsweise sie mit allem, was sie im Schweiß ihres Angesichts denkt, auf das Konto des Platonismus. So als wäre sie selbst ein fake, die Kugel ein lebendiges Wesen. – Doch zuviel ins Comic geschielt.
In ihrem Herzen zweifelt sie, ob alle Menschen den gleichen Weg gehen müssen wie sie: vom Allgemeinen zum Konkreten, vom himmelweit Entfernten zu dem, was bloß draußen, vor dem Haus liegt; man braucht nur die Tür zu öffnen. Oder sagen wir ganz einfach, von der Ewigkeit zur Sterblichkeit. Eigentlich logisch, wenn sie ihr Alter bedenkt. Die Richtung stimmt, und doch dachte sie immer, je näher man dem Tod kommt, desto mehr benötigt man ewiges Gepäck. War das falsch gedacht? Sie hat beizeiten angefangen, wollte nichts versäumen.
Peu à peu arbeitet sie sich heraus, oder vielmehr hinein. Sie lernt, daß jede Ursache eine Wirkung hat und daß es ein hoffnungsloses Unterfangen ist, auf Epiphanie zu bauen, auf ein segensreiches Verschwinden. Noch trägt man ihr alles hinterher: die schmutzige Unterhose, das verkrustete Taschentuch, die abgetriebene Frucht, den ins Papierchen gewickelten Kot, gesammelte Fingernägel für den Blumentopf: »Hier, junge Frau, haben Sie etwas verloren!« Aber sie lernt, daß solches Hinterhertragen nicht die vollendete Heimtücke des Schicksals, sondern der Anspruch der Existenz selbst ist, die keine Ausnahme kennt. Nimm die Dinge an, dann brauchen sie dich nicht zu verfolgen.
Man muß nicht exzeptionell schlau sein, wenn man in der Welt bestehen können will. Der Handwerker, zum Beispiel, ist nicht exzeptionell schlau, und er besteht; und darüber hinaus genießt er ihre ganze Bewunderung, und gerade bei ihm ist die Versuchung besonders groß, ihn für exzeptionell schlau zu halten, für einen Erbauer der Welt, Gottes Mitschöpfer, mindestens, sich also einen kräftigen Rückfall zu leisten. Aber wenn sie sich am Riemen reißt, weiß sie schon, daß der Handwerker nicht Herr über sein Handwerk ist, er kennt sich nur aus. Auch sie, das muß sie einfach glauben, könnte sich auskennen, wenn sie aufhören würde zu meinen, daß man, um sich auszukennen, Herr über das Handwerk sein muß. (Was übrigens daran liegt, daß sie die Dinge immer noch belebt!)
Die Kunst besteht darin, das Können vom Exzeptionellen zu trennen. Sie selbst kann immer etwas ganz oder gar nicht; also kann sie unendlich viele Sachen nicht und nur ganz wenige ganz. Das ist im Grunde ein feudales System, setzt ein Heer von Schatten und Helfern voraus. Ein mündiger Mensch kann viele Dinge, wenn auch nicht perfekt; er kommt so zurecht. Für sie ist alles, was sie nicht vollkommen beherrscht und was ihr folglich leicht von der Hand geht und was sie mit Freude wiederholt und als einen in Tätigkeit übersetzten Teil ihrer Person begreift, ein Geheimnis, gefährlich, geheimnisvoll, autonom, wie eine andere Person.
Von Oma und Großtante mütterlicherseits umsorgt, im Geist des Urgroßvaters erzogen, ist ihr das 20.Jahrhundert ist nicht nur unfaßbar nahe, es ist auch unfaßbar. Auch die angebeteten Eltern kriegt man nicht zu fassen. Bereitwillig überlassen sie die Erziehung den Altvorderen; geschieht der Gegenwart recht, daß man sie überspringt, was überspringt man sie, die in der Nazizeit jung waren!
Ihr Vater mochte schon die Weimarer Zeit nicht, und sie, Antipode ihres Vaters, solange es ums Politische ging, sie mag sie auch nicht! Kritik nimmt sie als Krakeelen wahr, nicht anders als die Nazis. Lyrik ist ihr zu expressiv – sie selbst, wenn sie nachdenkt, tut es mit dem einzigen Zweck, ihren urtümlichen Existentialismus, der sie in keiner Lebenslage im Stich läßt, wenigstens theoretisch zu überwinden. Neue Sachlichkeit hält sie für ein spätpubertäres Syndrom. Ironie scheint ihr je ärmlicher, je geschliffener sie sich gibt. Wenn sie etwas nicht erträgt, dann Zynismus, an der sturen ›Darstellung durch das Gegenteil‹ findet sie keine Fasson.
Im Grunde mag sie gar nichts.
Mit Existentialismus und Cartesianismus hat sie sich abgefunden. Sie hat sie gegen ihre Familie und gegen die Bedingungen ihres Aufwachsens aufgeboten und daraus radikales Tun und radikales Denken gemacht. Warum soll sie nicht dazu stehen, sagt ihr doch das letztere, wofür sie leben soll, das erstere, wofür sie sterben darf. Was sie betrifft, fehlt es nämlich beidem an Bestimmtheit. Andere mögen vom Grund ausgehen, sie versucht auf ihn zuzugehen.
Das wäre noch zu ertragen: Warum soll sie nicht am Himmel andocken so wie andere an der Erde, warum soll sie es nicht mit Begriffen zu tun haben, so wie andere mit Dingen. Wenn es nur nicht ein dinglicher Umgang, wenn es nicht spießiges, miefiges 19.Jahrhundert wäre! Das hat mit der ganz konkreten Höhle, in der sie aufgewachsen ist, und mit deren unbestreitbaren Annehmlichkeiten zu tun. Sie würde das ungern ausbreiten, aber es hat mit Oma und Großtante, mit dem Matriarchat zu tun, das ihrer Familie auf geheimnisvolle Weise unterlegt ist, und ist das Matriarchat nicht ganz speziell eine Erfindung des 19.Jahrhunderts? Oben die strahlenden Begriffe, unten die schmutzigen Röcke der Oma, über allem ihre Träume, unten, im Keller, ihre verdorbenen Fantasien, so ist ihre Welt gegliedert.
Tatsächlich ist sie für die platonische Existenz im sublimen Sinn nicht geschaffen. Alles andere als schwindelfrei, zieht sie den Halt am Küchentisch vor, wenn sie der Großtante beim Zubereiten so höllischer Speisen wie Lungenhaschee, beim Rühren des Pfefferkuchenteigs zuschaut – sie, das kräftige Kind, kann den zähen Teig nicht einmal halb so lang rühren wie die herzkranke Tante. Vornehmes Kind, spottet die, Doktorkind! Zu Weihnachten nimmt sie die Gans aus. Sie holt ein Ei aus dem Innern der Höhle, ja, wenn der Gott der Unterwelt spendabel ist, zwei. Sie brennt die Federkiele ab; ordnungsgemäß erhebt sich ein pestilenzischer Gestank nach Tod und Teufel.
Während die große Schwester die eine oder andere Speise als eklig zurückweist – sie zieht Gekauftes, Limonade, Fleischwurst, Ketchup, vor – ißt sie anstandslos alles, was die Hände der Großtante passiert hat.
Ihr Leben lang wird sie nach jemandem suchen, bei dem sie am Küchentisch sitzen darf. Die abenteuerlichsten Konstellationen werden für sie die anheimelndsten sein, und gelegentlich, wenn es hart auf hart kommt, wird sie auch vor Fehleinschätzungen nicht zurückschrecken. Sie wird sich eine blutige Nase holen, sprich eine Abfuhr; denn der Platz am Küchentisch ist nicht leicht zu erobern. Höhere Akademiker kommen übrigens nicht in Frage. Sind doch alles Scharlatane und Betrüger, auch wenn sie begeistert den Löffel schwingen. Sie als Teil der Akademie weiß, daß ihre Großtante, die Köchin, mehr Würde hatte als zehn von ihnen.
Wäre sie nicht in diesem geisterhaften Platonismus erzogen, sie würde wie jeder normale Mensch das Licht lieben, den hellen Tag. Sie bräuchte nicht Schattenreich noch Ewigkeit; ganz hübsch, würde sie sagen, aber zu verschwommen, und sich achselzuckend abwenden. Vor allem im Abwenden hat sie bereits Fortschritte gemacht; manchmal sieht sie die Welt schon so, wie sie ist. Wenn es nur nicht so anstrengend wäre! Wie wenn sie die Menschen vom Himmel abpflücken, an ihren Füßen herunterziehen und dann, mangels Magnetismus, auch noch festhalten müßte, so kommt es ihr vor. Erst muß man ziehen, dann muß man auch noch halten! Dabei, wenn sie sich selbst auf die Füße stellte, sie könnte sich alles weitere sparen. Manchmal klappt es, aber dann, schwupps, hängt sie wieder kopfunter am Himmel.
Die Fledermaus wäre ihr Totemtier.
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