Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

Zum Inhaltsverzeichnis


Porträt meiner Familie

Mein Vater wuchs als Kriegswaise, in der Obhut seiner Mutter und seines Großvaters auf. Seine Mutter, die er abgöttisch liebte, starb an einer heimtückischen Krankheit und ließ ihn als kaum erwachsenen Medizinstudenten zurück. Ohnmächtig hatte er den rasanten Verlauf der Krankheit verfolgt, die sie in nicht einmal vierundzwanzig Stunden dahinraffte. Als meine Mutter, eine schöne junge Frau mit strahlend blauen Augen, ihn wenig später im Hörsaal entdeckte und sich nach dem Namen des »traurigen jungen Mannes« erkundigte, teilte man ihr mit, daß er gerade seine Mutter verloren habe. Sie war gerührt. Dennoch mußte er sieben Jahre um sie werben.

Mein Vater war bei all der Verweichlichung, die ihm durch seine Mutter widerfuhr, und der altmodischen Härte seines Großvaters in Breslau als Großstadtjunge aufgewachsen. Bildungsbürger, Protestant, Beamtensohn in der soundsovielten Generation, war ihm nach Aufbruch zumute, und er fühlte sich zu den Nazis hingezogen. Meine Mutter gehörte zur Hautevolee einer schlesischen Kleinstadt, wo sie ›am Ring‹ wohnten. Sie wurde die erste Studierte in ihrer Familie, ihre Schwester sollte das Geschäft erben. Sie war kleinbürgerlich erzogen, standesbewußt, eng, von der Seite ihrer Mutter notfalls mit Ohrfeigen, aber in der Liebe des Vaters.

Durch den unerwarteten Ausgang des Krieges verschlug es meine Eltern nicht als Pioniere in die Weiten der Ukraine, wie sie es sich gemeinsam ausgemalt hatten, sondern als Flüchtlinge in den dichtbesiedelten Westen, wo mein Vater nicht ohne Schwierigkeiten eine Praxis bekam und sich als Arzt niederließ. Es war eine herbe Gegend, in der meine Schwester und ich aufwuchsen. Mein Vater hatte als Geburtshelfer einen herzerhebenden Beruf, von dem ein Glanz auch auf uns fiel. Aber sein Einzugsbereich erstreckte sich über viele ländliche Ortschaften, und die Menschen waren teils calvinistisch kühl, teils westfälisch schweigsam, über die Jahre jedoch anhänglich. Die Luft über den dichten Fichtenwäldern mit ihren engen Flußtälern war neblig gesättigt, wenn es nicht geradezu regnete, und meine Mutter, die immer Probleme mit der Lunge gehabt hatte, wurde asthmatisch davon. Sie verzieh der Gegend das Klima nie und den Menschen nicht, daß sie sie als Flüchtlinge behandelt hatten. Sie rieb sich auf zwischen ihren Verwandten, die sie in ihrem Haus aufgenommen hatte, und der wachsenden Praxis ihres Mannes, dem sie, wo immer sie konnte, zur Hand ging, auf die Verwirklichung eigener Berufswünsche verzichtend. Notgedrungen mußten wir Kinder sie mit vielen teilen und uns überdies damit abfinden, daß wir die Liste ihrer Pflichten verlängerten, verlangte ihre eigene strenge Erziehung von ihr doch, daß sie uns Vokabeln abhörte, sich zum abendlichen Vorlesen, wenn auch meistens verspätet und ohne selbst zu Abend gegessen zu haben, an unserm Bett einfand – wenigstens um uns das Kreuzzeichen auf die Stirn zu machen –, daß sie sich zum Elternsprechtag bei den Lehrern einfand und sich um die Zahnspange kümmerte. Wenn ich nicht einschlafen konnte, hörte ich sie durch die aus Rücksicht auf meine Ängstlichkeit stets einen Spalt weit geöffnete Tür noch stundenlang auf der Schreibmaschine klappern.

Wir wuchsen wohlbehütet, aber unter unterschiedlicher Herrschaft heran. Vater war großzügig, dabei nachtragend und ängstlich, Mutter oberflächlich strenger, aber beherzter, und so schnell sie nein sagen konnte, so schnell ließ sie wieder davon ab. Oma war diktatorisch und böse, ihre um vieles jüngere Schwester, meine über alles geliebte Patentante, lustig und ein echter Kumpel, aber außerordentlich auf ihre Würde bedacht und empfindlich wie eine Mimose. Mutters eigene Schwester war kindlich-heiter und boshaft zugleich. Unter der Maske der Kindlichkeit, so schien es mir, versprühte sie Gift, womit sie viel Schaden anrichtete, zumal man sie nicht bei ihrer Verantwortung packen konnte. Sie war von intuitiver Zielsicherheit und wußte, womit sie am besten treffen konnte – wie ein Kind eben.

Opa, von zwei Weltkriegen und etlichen Schlaganfällen schwer gezeichnet, war der Gegenstand unserer kindlichen Fürsorge. Er sagte nie etwas. Wir nahmen ihn gegen die Oma in Schutz.

Die Herrschaft konnte nicht unterschiedlicher über uns ausgeübt werden, und unklar waren die Herrschaftsverhältnisse. Meine Schwester bestand darauf, daß nur Vater und Mutter ihr etwas zu sagen hätten, und hatte, da wir den größten Teil des Tages mit den älteren Verwandten zubrachten, viel auszustehen – und wir mit ihr. Sie war konfliktfreudig – vielleicht weil sie sich als Stellvertreterin fühlte –, ich eher kompromißbereit, in ihren Augen sicherlich opportunistisch, im besten Fall klein und dumm; ich hielt es mit dem, der da war. In Wirklichkeit hatte ich mein Zuhause bei den Alten; da empfand ich Glück, tiefste Geborgenheit, da war ich verankert. Da es aber unmöglich war, nicht für die Eltern zu schwärmen, die vergleichsweise jung, hübsch und idealistisch und bei alledem namenlos tüchtig waren, bildete ich mir ein, sie schwärmten für mich, und erfand mir für die Existenz meiner Schwester alle möglichen Ausreden. Freilich war diese Liebe für mich zuviel, ich überhob mich an ihr; verzehrte mich in Gefühlsexzessen – Angstexzessen, Schuldexzessen, Sexexzessen –, war tagsüber ein strahlendes, etwas pausbäckiges Kind und nachts hohlwangig und blaß. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die ein echtes Kriegskind und eine schlechte Esserin war, die mit Lebertran traktiert wurde und an allem herummäkelte, war ich geradezu robust und aß auch alles, was auf den Tisch kam, neigte aber zu Krankheiten und fand nur mühselig aus ihnen wieder heraus und setzte bei diesen sich lang hinziehenden Gelegenheiten auch bei Tage das Nachtgesicht auf, und meinem Vater leuchtete bei meinem Anblick die Panik aus den Augen.

Meine Mutter hatte um den Besuch des Lyzeums noch kämpfen müssen, zumal sie für die Oberstufe aufs Internat mußte. Uns standen alle Wege offen. Mein Vater sah sich in uns so fortgesetzt, als wären wir Jungen; von ihm übernahm ich die Perspektive der Unendlichkeit; er begrenzte uns nicht – ich fand aber, daß meine Schwester sich unnötig begrenzte, indem sie sich schon frühzeitig für das Fach unserer Eltern entschied. Meine Mutter war in ihren Studienjahren herumgekommen. Sie hatte eine sehr genaue Vorstellung vom Studentenleben, schwärmte von Kameradschaft, vom Sport und vom Tanzen. »Genieße diese Zeit«, pflegte sie zu sagen, »binde dich nicht zu früh.« Sie hatte sie genossen, und nicht zuletzt deshalb hatte der Vater auch so lange um sie werben müssen. Sie war in der kleinbürgerlichen Enge der schlesischen Kleinstadt groß geworden. Sie war eine Frau und wußte, daß die Jahre, die sie in Freiheit verbringen konnte, begrenzt waren. Als die Gesundheit ihres Vaters sich dramatisch verschlechterte, hatte sie sich an der nächstgelegenen Universität, in Breslau, eingeschrieben, und später heiratete sie dann auch; einen ehrbaren jungen Mann, gewiß, nur leider Protestant, was ihrer ehrgeizigen Wahl den Anschein des Revolutionären gab. Etwas von dem anarchischen Geist ihrer Jugendjahre blieb ihr indes, und gelegentlich klang auch die Männerfeindschaft ihrer Mutter durch, die »Ehe« mit der Pflicht, dem Mann die schmutzigen Socken waschen zu müssen, umschrieb. Ihre Träume, die sie auf uns übertrug, waren uferlos, was die Karriere anging – Politiker sollten wir werden, Richter, in der Öffentlichkeit sollten wir glänzen –, und sie hatten etwas Amazonenhaftes. Im Alter, nach Jahren der Ausbeutung durch den immer hilfsbedürftigen Vater, auch der Selbstaufopferung, nach schlimmer Krankheit, wurde sie noch einmal hübsch rundlich, hübsch weiblich, und ich stand da mit meinem Amazonentraum, meinem Traum von der Androgynität, in dem sie die Hauptrolle gespielt hatte.

Ich studierte an der Freien Universität Berlin, und vom ersten Tag an begleitete mich die Studentenbewegung. Ein älterer Student, der sich im Oberseminar ebenso umtat wie in den Zirkeln der linksradikalen Studenten, las mich auf und nahm mich in seine Schule. Ich lernte das harte Leben der Novizin kennen, das harte Leben der Mitläuferin, das harte Leben der Bettgefährtin. Ich fand nichts von dem wieder, was meine Mutter über die Studentenzeit berichtet hatte, und sie, wenn sie meinen missionarischen Ernst, meine Humorlosigkeit, meine stets überanstrengte, äußerlich leicht angeschmuddelte Verfassung sah, verstand nicht, wie man seine schönsten Jahre so vergeuden konnte. Ich dagegen begriff nicht, wie es schöne Jahre geben konnte, wenn sie sich nicht durch die Einrichtung einer vollkommenen Welt als solche ausweisen konnten. Durch den politischen und wissenschaftlichen Umgang mit den älteren Studenten permanent überanstrengt, träumte ich wohl von harmlosen Vergnügungen, wie meine Mutter sie augenscheinlich erlebt hatte. Aber der Zugang blieb mir – von einigen wundersamen Episoden abgesehen – versperrt. Immerhin bekam ich einen Zugang zu den Wissenschaften, in die meine Freunde mich ebenso einführten, wie sie mich zielstrebig davon ausschlossen; wenn ich auch einen besonderen, eher privaten, meditativen, künstlerischen Gebrauch von ihnen machte und mir jeden ernsthaften Karriereversuch als zu eng, zu begrenzend verbot und nur darauf achtete, daß ich von der abstrakten Leistung her mithalten konnte; denn in einer ganz innerlichen Weise war ich so ehrgeizig, wie seinerzeit meine Eltern es zuerst für sich und dann für uns gewesen waren. Eine definierte Karriere ermangelte für mich der Unendlichkeit, und außerdem wollte ich, daß man mir sie antrug; hierin dachte ich immer noch religiös. Ein selbsternanntes Ziel oder eine zielstrebig ins Werk gesetzte Karriere ermangelte der Erwählung.

Ich heiratete und übertrug meine widersprüchlichen Erwartungen auf meinen Mann: er sollte Erfolg haben, aber er sollte sich durch ihn nicht begrenzen lassen. Ich, freilich, hätte mich durch seinen Erfolg schon begrenzen lassen mögen, bildete ich mir ein. Als er schlechterdings ausblieb, blieb mir nichts anderes übrig, als mich durch eine bürgerliche Tätigkeit selbst zu begrenzen. Per aspera ad astra: auf die Sterne konnte ich dennoch nicht verzichten.

Während meine Eltern sich von der Familie emanzipierten und wieder ein Paar wurden, gründete ich eine Familie und spielte mit ihr womöglich dasselbe Spiel wie seinerzeit meine Mutter, in einer Mischung aus Aufopferung und Vorbehalt und einer zunehmenden Neigung, die mir zufallende marginale Rolle in ernsthaften Krankheiten, einem ernsthaften Ausbruch zu Ende zu denken.

Ich verließ Mann, Kinder und die Wohnung, in der wir fast zwanzig Jahre zusammen gelebt hatten, und tat mich mit einem jungen Mann aus einer anderen Kultur zusammen. Er verließ seine Familie und seine Freunde, ich meine. Als wir uns nach über zehn Jahren trennten, war aus dem schönen, seiner selbst ungewissen Jungen, dem Bruder unter Brüdern, ein einsamer Erwachsener geworden. Ich hatte die Einsamkeit noch vor mir, verwechselte nach wie vor erwachsen mit frei sein und ahnte nicht, was auf mich zukam.

Meine Mutter starb um die Zeit, hochbetagt und schmerzgeplagt, aber so, wie sie gewollt hatte: ohne daß sie liegen und sich »von fremden Leuten anfassen lassen« mußte. Sie war als Erwachsene, eingeklemmt zwischen den Generationen, die sämtlich Ansprüche an sie stellten, eher depressiv gewesen, schweren Krankheiten nicht abgeneigt. Im Alter entwickelte sie Züge einer fröhlichen Frau. Sie hatte noch Anwandlungen einer feindselig-anarchischen Grundstimmung. Aber sie konnte auch lustig sein. Sie war froh, als die Generation vor ihr – alle, die sie als Flüchtlinge ins Haus geholt, für die sie Verantwortung übernommen und die sie am Ende gepflegt hatte – gestorben war und daß sie sich kein Versäumnis vorzuwerfen hatte. Als sie starb, glaubte niemand, daß mein Vater sie lange überleben würde, hatte er sich seiner Abhängigkeit von ihr, seiner Unselbständigkeit doch stets gerühmt. Für gewöhnlich eher sparsam und unbestimmt in allen Äußerungen, die ihn selbst betrafen, hatte er jedoch unmißverständlich kundgetan, daß er in seinem Haus zu sterben wünsche. Unter der Last der Selbstverantwortung, in der beständigen Gegenwart der Menschen, die er für sich sorgen lassen mußte, in der Auseinandersetzung mit seinen Töchtern, rückte seine Frau ihm allmählich ferner, oder aber er empfand das Bedürfnis, von ihr zu reden und seine Trauer deutlich zu machen, nicht mehr so stark und verstieg sich sogar zu der einen oder anderen Bemerkung über sie, die die frühere Abhängigkeit vermissen ließen und von einer betrachtenden Haltung zeugten.


 ← Zurück |  → Weiter

Zum Inhaltsverzeichnis

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 134 (2006), 15–18.

Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© 1995–2005 Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.