Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt einer fortschrittlichen Frau
(Porträt der Aufklärung I)

Sie ist nicht naiv, obwohl ihr die Naivität ins Gesicht geschrieben steht. Sie weicht dem Bösen nicht aus.

Mit ihrem Weltbezug hat es dennoch einen Haken.

Naiv ist für sie, wer sich die Welt anders denkt, als sie ist. (Daß es naiv sein kann, an den Erkenntnisapparat so zu glauben wie an den Kirschbaum von gegenüber, kommt ihr nicht in den Sinn.) Naiv für sie ist, wer das eigene Bedürfnis darüber entscheiden läßt, wie die Welt ist. (Naiv für mich ist, wer sie nach der eigenen Fassungskraft bemißt.) Naiv ist für sie, wer sich nie darüber wundert, wie gut sie zusammenstimmen, die Vernunft und die Welt. (Wer glaubt, daß das Urteil das letzte Wort hat, der ist für mich naiv.)

Aufgeklärtheit ist für mich naiv. Aber ich greife vor. Eins nach dem andern.

Der wiche für sie dem Bösen aus, der ihm bewußt ausweicht. Der sagt: Da vorne brennt’s, und feige umkehrt. Der noch für die Beerdigung des besten Freundes auf eine Ausrede sinnt, weil er beim Friedhof ans Sterben denkt.

Dabei, auch sie spürt die Versuchung, und das Standhalten fällt ihr schwer und wird von ihr aus genau aus diesem Grund überschätzt; so als hätte sie, wenn sie der privaten Schwäche die Stirn bietet, schon etwas für die Allgemeinheit erbracht. Etwas genau nicht Privates.

Immerhin weicht sie nicht aus oder bemüht sich jedenfalls; ihr Leben verliert sonst von seinem Sinn. Allerdings kommt es vor, daß sie, obwohl herzhaft bereit, dem Bösen entgegenzutreten, es nicht bemerkt, vielmehr glatt übersieht – naivere Leute als sie müssen sie darauf hinweisen –, und wie soll sie es dann konfrontieren? Genaugenommen hat sie einen Hang zum Blackout. Etwas in ihr blockt, und es gibt böse Stimmen, die sagen, daß auch das Feigheit vor dem Feind ist. Sie sagen, daß es eine verabscheuungswürdige Form der Feigheit ist, gewissermaßen eine Sünde von Gewicht. Aber sie kann doch nichts dafür.

Irgendwie ist die Blockade ihr Normalzustand. Etwas nimmt sie gefangen. Schützt sie meinetwegen vor Mutproben aller Art. Aber lähmt ihre Kraft.

Es ist wie mit dem Ei und der Henne. Von Natur energisch, blockt sie; von der Erfahrung lähmender Blockaden gezeichnet, hält sie es schon für fortschrittlich, energisch zu sein, optimistisch. Aufgeklärtheit verschwimmt ihr mit Entschlossenheit. Letztere scheint ihr das natürliche Resultat der ersteren, sozusagen ihre natürliche Fortsetzung.

Eine Atombombe? Prügelnde Polizisten? Ein Staat, der die Menschenrechte mit Füßen tritt? Das wäre ja noch schöner! Entschlossen krempelt sie die Ärmel hoch.

Da hört sich doch alles auf. Soweit ist es schon wieder gekommen?

Sie würde nie bezweifeln, daß es soweit ist. Das überläßt sie den Naiven. Beschönigung gibt’s bei ihr nicht. Dem Realismus gebührt die Krone.

Für sie ist Realismus eine verantwortliche Sicht auf die Welt, und also weder die bloße Sicht noch die Welt; zwischen beidem steht für sie vielmehr die Verantwortung. Folglich kommt auch dem, der sie nicht nur übernimmt, sondern dessen von ihm nicht zu trennende Haltung sie ist, eine wichtige Rolle zu. Ja, wenn sie sie sich nicht selbst aufsetzen müßte und wäre andererseits Bescheidenheit nicht ihr Lebenselixier, dann gebührte ihr, der aufgeklärten Frau, die Krone.

Zu den Prämissen ihres Realismus gehört ferner, daß die Ansicht, die die Aufklärung von der Welt vermittelt, hält, was sie verspricht: daß es ein Bündnis gibt zwischen dem vernünftigen Menschen und der Welt. Und daß es sie also gibt, die vernünftige Welt.

Aber an diesen Prämissen ist etwas faul: Daß es die Realität gibt, braucht man ja gar nicht zu bezweifeln. Ein so radikaler Zweifel rückte die aufgeklärte Frau leicht in ein allzu günstiges Licht; so als wäre schon dies eine enorme Leistung, sich auf die Seite der Realität zu schlagen, im Gegensatz zu allen Zweiflern und Tüftlern. Und in der Tat scheint sie auch aus diesem aufgebauschten Gegensatz nicht wenig Legitimation und Kraft zu beziehen.

Ebensowenig muß man den Zugang zur Realität in Frage stellen. Auch ein erkenntniskritischer Zweifel glorifiziert die bloße Parteinahme für die Wirklichkeit, idealisiert sie als humanistische Position, stellt das ›Humane‹ als aufregend und schwierig, als zugleich extraordinär und alltäglich heraus, kurz als heroisch. Vor diesem dramatischen Hintergrund scheint es, als stünde unsere aufgeklärte Frau bei aller Verstörtheit mit beiden Beinen fest auf der Erde. Wenn nur eben diese seltsame Symbiose von Realismus und Verstörtheit nicht wäre!

An dieser Symbiose liegt es, wenn sie ihre Prämissen nicht durchschaut. Man kann auch sagen, an diesen Prämissen liegt es, wenn sie verstört ist. Ebensogut ließe sich behaupten, an ihrer Verstörtheit liegt es, wenn sie dem Realismus eine übertriebene Wertschätzung angedeihen läßt. Nur, was hat sie eigentlich so verstört? Und wie ist sie, verflucht noch mal, überhaupt zu ihren Prämissen gekommen?

Dabei wäre alles so einfach. Der aufgeklärte Realismus, dessen leicht ins Panische – ins Blockierte, Geschockte, auch ins Harthörige oder Verblendete – verzerrte Repräsentantin sie ist, mag ja eine aufrechte Haltung sein für jemanden, der sich an den Kategorien der Vernunft und den Realien der Selbsterhaltung orientieren will mitten in einer auf die Irrationalität der puren Wertvermehrung ausgerichteten Welt, der also weiß, daß er provoziert und daß das Wichtige, das er vertritt, zugleich das Randständige ist; daß also der Realismus selbst mehr Prämisse als Realität und, was diese betrifft, eine eher wegführende als eine hinführende Orientierung ist. Daß der Träger solcher Orientierung sich dessen in der Regel nicht bewußt ist, hemmt indessen nicht nur sein Verständnis der Welt; auch was er selbst unter dem ›wirklichen Leben‹ versteht, orientiert sich eher an der Metaphysik als an der Erfahrung – beziehungsweise stellt die aus der Erfahrungskontrolle herausgenommenen essentials des alltäglichen Lebens dar –, was zu jener unvergleichlichen Mischung aus Begriffsstutzigkeit, Panikbereitschaft und Rechthaberei führt, die man theoretisch nur als Nonsens, psychologisch nur als Verstörung bezeichnen kann.

Den besonnenen Gesten der aufgeklärten Frau haftet denn auch etwas Leerlaufendes, ihrer Beherztheit etwas Verzweifeltes, ihrer ruhigen Bürgerlichkeit etwas Benommenes an. Geradezu aufreizend ist ihr Gebaren für den, der die Vernunft für eine Welt mit eigenen Gesetzen hält. Nicht ausgeschlossen werden kann, daß andere ihre Verstörung auf andere Ursachen zurückführen, daß sie sie als Zeichen von Triebhaftigkeit werten oder von überbordendem Gefühl; gar von Herrschsucht und Größenwahn. Ja, es ist nicht auszuschließen, daß sie die Verstörtheit überhaupt nicht bemerken, erstens, weil sie mit Vernunft nichts Besonderes verbinden, von einem besonderen Umgang mit ihr auch nicht ›genervt‹ werden können, oder zweitens, weil jede Person ja einen Charakter haben muß, um überhaupt in Erscheinung zu treten, und der Charakter nun einmal so ist, wie er ist. Ihrer ist mit Sicherheit so. Andernfalls hätte der fatale Hang sie schon längst in die manifeste Verzweiflung gestürzt; unbekümmert taumelt sie dagegen am Rande des Abgrunds. Wer weiß, vielleicht hat ihre bodenständige Solidität sich nur nach einem extravaganten Flair gesehnt. Oder diese seltsame Ängstlichkeit markiert den elektrischen Pol, von dem sie sich abstößt, um sich mit frischer Energie erneut an ihre trockene Arbeit zu machen.

Denn solide Arbeit schätzt sie. Da ist sie über alle Maßen genau; wäre es kein Widerspruch, müßte man einräumen, kreativ. Da diese kreative Akribie zweierlei in sich vereint, ist sie sozusagen universell verwendbar. Nicht nur kann man die Genauigkeit, sondern auch die Kreativität auf einen soliden Gegenstand beziehen, so wie umgekehrt nicht nur Kreativität, sondern auch Akribie sich auf unordentliche, vermutlich also eher gesellschaftliche als dingliche Verhältnissen beziehen lassen. Staunend und wie einer ungewohnten Machtfülle wird sie sich dessen bewußt, wenn sie ihre Aufmerksamkeit einem Gegenstand ihrer Lebenswelt zuwendet und ihn, so wie sie es eben vom Schreibtisch gewohnt ist, einer akribischen Bearbeitung unterzieht, mit jener Mischung aus Neugier und Neutralität, die durchaus sprengkräftige Ergebnisse zeitigen kann (vom Schreibtisch-Standpunkt betrachtet); daß der Knast ein Knast ist, zum Beispiel, auch daß der Hungerstreik nicht mit einer Diät verwechselt werden darf. (Zugegeben, andere sind davon ausgegangen, aber sie stellt sich ausdrücklich dazu.) Jede Arbeit ist Tätigkeit, jede Tätigkeit Arbeit. Aber wenn man die Arbeit am toten Gegenstand als solide Arbeit charakterisieren könnte, so die am lebendigen als die des Solidisierens.

Was die solide Arbeit angeht, so gibt es keine, der sie nicht gewachsen wäre; obwohl, ein wenig Vernunft möchte schon vorhanden sein, auch ein wenig Vernunft. Was die Gegenstände angeht, die der Solidierung bedürfen, so unterliegen sie prinzipiell ebenfalls keiner Beschränkung; obwohl es auch hier Unterschiede gibt und es ihr schaudert, wenn sie an verschmutzte Wunden denkt, an nicht domestizierte Natur; auch wenn sie gesellschaftlich bewirkt ist, sagen wir durch Folter.

Ausgeschlossen ist ein Methodenwechsel, gar ein Subjektwechsel. Wo es um den Zugriff aufs Objekt geht, da ist sie ganz stur: Es muß aufgegriffen werden, und sie muß es aufgreifen. Zwar gibt es großartige Gegenstände und armselige, auch schreckliche Menschen. Aber ein Subjekt ist ein Subjekt, und wenn es denn Eigenschaften hat, die das Schema zu sprengen scheinen, dann sind sie mit Akribie als unwesentliche auszuweisen. Undenkbar, daß etwas von dieser Aufgabe entbindet!

Was für sie persönlich nicht geht, ist in den Tag hinein dösen; diese wenn man so sagen darf Eigenschaft greift den Subjektstatus an, endet in Selbstaufgabe. Was prinzipiell nicht geht, ist wie gesagt dem Gegenstand die Methode zu überlassen. Und zwar geht es deshalb nicht, weil Subjekt und Methode eins sind. Subjekt sein bedeutet, im unverzichtbaren Maß formalisiert sein, Methode, mit systematischem Anspruch zu formalisieren.

Das Subjekt ist die Methode. Es wählt sie nicht und bestimmt sie nicht; das sind akademische Mätzchen, ist im Grunde Kinderkram. Vielmehr geht es darum, daß überhaupt so etwas wie Methode passiert, und diese Voraussetzung ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft – herrschen ist langweilig, es instruiert nicht –, vielmehr mit der Bereitschaft, sich selbst soweit zu formalisieren, daß die Grundbedingung jeglicher Erkenntnis erfüllt ist: daß man weiß, was man tut (und das setzt voraus, daß jemand da ist, der es weiß). Auf dieser enorm zurückgenommenen Basis aber, das gibt sie lächelnd zu, erfreut Herrschaft. Sie tut gut. Es tut einfach gut, in den Genuß dessen zu kommen, wozu man selbst eine der entscheidenden Voraussetzungen darstellt. Und ganz im Ernst ist sie auch davon überzeugt, daß das eigentlich Fortschritt ist.

Die aufgeklärte Frau zeichnet denn auch eine innere Spannung, eine gewisse unterdrückte Entschlossenheit, eine untergründige Tat- und Triebkraft aus, die ihre Person bald ins Gesammelte, Ideale hinauf-, bald leider auch ins Groteske, Lächerliche hinunterzieht. Das werden wir nicht hinnehmen, sagt sie mit napoleonischem Gestus, haut gewissermaßen auf den Tisch. Da werden wir – verflixt noch mal – reagieren!

Vielleicht schreibt sie nur einen Leserbrief, formuliert gegen den großen Skandal einen kleinen Protest, auch umgekehrt, einen großartigen gegen den kleinen. Cool kommt das nicht rüber. Auch im Moment der größten Euphorie gibt es noch diesen Hiat zwischen ihr und der Welt. Mind the gap! Man selbst wäre gern cooler. Unauffällig rückt man zur Seite.

So sehr aber die aufgeklärte Frau unser Wahrheitsgefühl, auch unser Lebensgefühl beleidigt, so kann man ihr doch nicht viel mehr vorwerfen, als daß sie nicht über sich hinausdenkt. Im einzelnen kann man ihr vorwerfen, daß sie auf Leben pocht, wo sie schon längst auf Denken setzen sollte; daß sie sich, statt die Freiheit gedanklicher Aufhebung zu nutzen, im wahnhaften Planen und Sortieren ergeht. Nicht viel mehr kann man ihr also vorwerfen, als daß sie die Unstimmigkeiten ihrer Person generalisiert, anstatt sich von ihnen durch Aufhebung ihrer Person zu befreien. Immerhin, allen selbstverleugnenden Fleißes, auch aller Couragiertheit, allen naiven Mutes zum Trotz fällt sie damit unter das Verdikt ›Feigheit und Faulheit‹, die kantische Formulierung nämlich für Verstörtheit, Verstörtheit, schuldhaft gefaßt, oder nach Freiheitskategorien, als etwas, was man lassen kann.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 134 (2006), 15–18.

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