Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt meiner Mutter

Meine Mutter war für mich die Vertreterin einer archaischen Gesellschaftsform, wie wir sie heute nur bei Immigranten und ethnologischen Resten vermuten; als Schlesierin war sie durchaus ein ethnologischer Rest, wenn auch keine Besonderheit, als ins Westdeutsche hinübergewechselter ostdeutscher Flüchtling zweifellos Immigrantin. Für eine Frau ihrer Zeit recht gut gebildet und hervorragend ausgebildet – begeisterte Dostojewski-Leserin und kommunistische Schwärmerin bis zum Abitur, Medizinstudentin, Ärztin mit eigenständiger Berufsausübung typischerweise nur in den Kriegs- und Nachkriegswirren –, hielt sie gleichwohl nicht das Individuum, sondern das Gesellschaftliche für die Keimzelle der Gesellschaft. Obwohl wir sie in den mittleren Jahren als eher verkrampft und kontaktarm erlebten, glaubte sie fest an diese oberste Norm und an den gesellschaftlichen Auftritt als die entscheidende Form der Bewährung, an die gesellige Runde als das höchste Gericht, vor dem man gewogen und nicht selten für zu leicht befunden wurde; sie, in ihrem eigenen scharfen Urteil, auch von sich selbst. Dabei liebte sie weiß Gott nicht nur oberflächliche Menschen, brachte diesen allerdings eine Nachsicht entgegen, die schlechterdings unverständlich blieb, solange man nicht berücksichtigte, daß für sie die Gesellschaft, in der verkleinerten Form der geselligen Zusammenkunft, alles war. Hier durfte sich der Mensch als Mensch präsentieren: im besten Fall als weitsichtig und erfahren, aber auch als harmlos und fröhlich, unter keinen Umständen aber als miesepetrig oder bierernst, gar als fanatisch oder missionarisch oder was man unter abgehoben verstand, eine theoretische Haltung, die die Menschen voneinander sonderte, anstatt sie zu vereinen. Letzteres war unwillkommen, um nicht zu sagen verpönt, es galt als rücksichtslos, als egoistisch und irgendwie privat. Eine solche Haltung war nicht geeignet, um nicht zu sagen nicht dazu gedacht, von der Mühsal des Lebens abzulenken und für Belustigung, auch Besinnung zu sorgen. Sogenannte Gesellschaftslöwen, deren Grenzen sie mühelos durchschaute, hatten bei ihr immer Kredit. Die ich will nicht sagen Verehrung, aber heitere Duldung, die sie ihnen entgegenbrachte, die Wertschätzung ihrer ›blendenden Gaben‹ oder ihres ›sprühendes Temperaments‹, ihrer rhetorischen und witzigen Qualitäten fernab und in bewußter Unabhängigkeit von dem Gebrauch, den sie von ihnen machten, oder dem Zweck, den sie im einzelnen verfolgten, färbte nicht geradezu auf unsere Erziehung ab, machte sich aber in sehnsüchtigen Äußerungen bemerkbar. Daß ihre beiden Töchter eine Rednergabe kultiviert hätten und die erste Bundespräsidentin geworden wären oder wenigstens eine ›glänzende Juristin‹, hätte ihr Herz zuinnerst erfreut, selbst wenn sie nicht wußte, wie sie eine solche Zukunft fördern sollte, zumal bei uns Mädchen, auch bei Gelegenheit eingestand, daß sie den Schein durchschaute.

›Fähigkeiten‹ waren bei ihr großgeschrieben, da war sie ganz 19. Jahrhundert und mit ihrem Ehemann einig. Sie war als katholisches Mädchen in einer schlesischen Kleinstadt aufgewachsen, in einer Familie, die mißtrauisch und ängstlich auf alles schielte, was dem gesellschaftlichen Ruf schaden konnte. Ihre selbstlose Hochschätzung gesellschaftlicher Fähigkeiten, mit denen sie selbst sich keineswegs, ihr Mann, protestantischer Großstädter mit einem Hang zur häuslichen Schwermut, sich dagegen reichlich ausgestattet sah, erzeugten zu Hause ein seltsam schizophrenes Klima, das von uns Kindern nicht leicht oder nicht rechtzeitig enträtselt werden konnte, bot es sich doch geradezu an, Vaters Diagnose zu übernehmen und Mutters feindselige Ablehnung jeder Festivität, ihre ›Abwehrhaltung‹ – die ihr Mann durch ein Gläschen Sekt zu überlisten suchte – als einen Beweis für Introvertiertheit zu werten, also von einer gewaltigen Macht der Innerlichkeit in unserem Elternhaus auszugehen, im Vergleich mit der Vaters bei Bedarf ›sprühende Laune‹, Mutters Schwärmerei für ›Blender‹ sich oberflächlich und unecht ausnahmen, wie simuliert oder wie ein überständiger Rest aus den fragwürdigen Zeiten, in denen die Normen der Studentenverbindungen noch den Ton angegeben hatten.

Es gab auch sachliche Fähigkeiten, die man bewundern konnte, ein ›überragendes Wissen‹ zum Beispiel. Dieses Wissen nützte aber Mutters Ansicht nach nichts, wenn es sich nicht präsentieren konnte; hier drohte die entscheidende Falle, die sie für ihre Kinder, ohne es zu wollen, präpariert hatte. Sachverstand, der sich aus der Anwendung ergab und vor dem Gegenstand, in der handwerklichen Situation par excellence, bewährte, zählte beinahe soviel wie das rhetorische Talent. Das lag in der Natur der Sache, an der Abwesenheit des Abgrunds zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, weil ja die Innerlichkeit fehlte. Da letzteres aber selten oder nur der unreifen Schwärmerei so vorkam, war der am höchsten geschätzt, der seinen Kummer um einer unbeschwerten Stunde willen zurückdrängte und überhaupt in aller Härte zwischen privatem Leid und heiterer Geselligkeit trennte. Wenn er sich dann im stillen Kämmerlein, im spätabendlichen Telefonat anvertraute, dann stieg er noch in der Achtung, und das Leben gewann an Substanz.

In ihrem Vokabular waren Vater und Mutter übrigens ununterscheidbar, aber zur Kinderillusion gehörte es, von der Mutter zu meinen, sie schwätze bloß, klangen die erhabenen Worte aus ihrem Mund doch unerträglich hohl, wogegen der Vater sie unübersehbar in seinem Herzen bewegte.

Wenn man Mutters Urteil trauen durfte, dann gab es im gehobenen Milieu unserer unfreundlichen Kleinstadt durchaus ›brillante Gesellschafter‹. Sie, die nur rackerte und abends todmüde ins Bett fiel, war voller Bewunderung für sie. Sie selbst war kein bißchen ›brillant‹, nach Ansicht der meisten streng, öfters finster und apodiktisch im Urteil. Wenn sie sich abends noch zum Ausgehen aufraffte, mußte sie eine Gesichtsmaske auflegen, damit die erschöpften Züge sich strafften, solange wenigstens, bis der Alkohol ihrer Umgebung ein ähnliches Aussehen verlieh, und im übrigen waren ja alle müde vom Tag, die andern freilich hungrig nach Ablenkung, sie nach Ausruhen. Aber sie hatte auch etwas Strahlendes und war sich dessen bewußt; nicht nur ihre blauen Augen, ihr ganzes Gesicht mit den mongolischen Backenknochen, auf die sie so stolz war, leuchtete. Daß sie gleichzeitig als hart galt, erhöhte noch die Wirkung; so war es mitnichten eine Steigerung harmlosen Lächelns, sondern von höherer Art. Da sie es selbst strikt von Brillanz unterschied, war es schwer, zumindest für uns Kinder, eine konkrete Zuordnung für dieses Strahlen zu finden. Am ehesten bot sich noch an, es in der Vergangenheit zu verorten und als einen Gott sei Dank erhaltenen, wenn auch sinnlos gewordenen Rest zu bewerten. Nicht nur nach dem Bekenntnis ihres Mannes, sondern auch nach den Fotos war die Mutter eine schöne Frau gewesen; wie sie erzählte, auch von strahlender Fröhlichkeit, dazu stark. Sonst hätte sie es nie geschafft, den Schulschwestern der höheren Schule die Stirn zu bieten, als eine der ersten ihres Städtchens ein Studium zu ergreifen und dann auch noch Semester für Semester die Universität zu wechseln, das kulturelle Leben der jeweiligen Stadt sowie die Annehmlichkeiten der Umgebung, die Skigebiete, die Strände zu nutzen, ins studentische Leben einzutauchen und um ein Haar die Prüfung zu verschlafen – sie, die später unter den hartnäckigsten Schlafstörungen litt! Da sie zudem über Fähigkeiten verfügt hatte, die nachweislich verloren gegangen waren, durfte man schon davon ausgehen, daß das Strahlen ehemals in einem festen Zusammenhang verankert gewesen war. So wie wir sie kannten, hatte sie zum Beispiel eine reizvoll gebrochene, aber im Grunde schon erschreckend heisere Stimme, und es war einmal ein wunderschöner Sopran gewesen. Sie hatte Solo gesungen. Der jüngferliche Alt ihrer Schwester, die ihn im gemischten Chor pflegte, überdauerte dagegen die Jahrzehnte. Es gehörte außerdem zu den Lieblingsgeschichten unseres Vaters, daß er, obwohl mit allen hochgeschätzten Qualitäten ausgestattet, ein begabter Redner und sprühender Gesellschafter, sieben Jahre hatte um sie werben müssen. Dabei war ihre Unentschlossenheit vielleicht zum größeren Teil auf ihre Angst vor der Mutter zurückzuführen und vor dem kleinstädtischen Skandal einer konfessionell gemischten Ehe. Sie behauptete dagegen, sie hätte das Leben noch genießen wollen – aber dieses Urteil, auch wenn es lachend und voll der heitersten Erinnerungen gefällt wurde, gründete womöglich schon auf den späteren Erfahrungen eines eher als düster empfundenen Lebens.

Allein der Tatsache, daß meine Mutter das Bedrückende ihrer mittleren Jahre, ihre eigene Abwehrhaltung überlebte und in hohem Alter erneut ein geselliger Mensch wurde, ist es gedankt, daß ich sie in diesem mir ganz fernen und wunderbaren Licht sehen kann. Solange wir sie als Mutter brauchten, wurde sie, die durch das Flüchtlingsdrama zur Familienstütze avanciert war, zugleich als Tochter, Schwester, Nichte gebraucht. Von ihrem Mann als Nachfolgerin seiner früh verstorbenen Mutter vergöttert und zu altruistischen Höchstleistungen angestachelt, übertrug sie auf ihn sagen wir für kurze zwanzig Jahre – die uns Kindern freilich als eine Ewigkeit und ein ausgemachtes Schicksal vorkommen mußten und die wir uns nicht anders denn als Ausdruck einer inneren Anlage oder einer bindenden Entscheidung deuten konnten – die Freuden und Pflichten des gesellschaftlichen Lebens und ließ sich zu Hause zugleich verhätscheln und aufs bitterste mißbrauchen. Keine Frage, daß sie dem Ehemann den gesellschaftlichen Erfolg dadurch versalzte, so daß ich gar nicht anders konnte, als ihren Widerwillen für bare Münze zu nehmen; zumal er zur finsteren Laune und dem aggressiven Mißtrauen ihrer eigenen Mutter, unserer Großmutter, paßte, die – man höre und staune – doch ein Leben lang die angesehene Wirtin einer Weinstube gewesen war und die Kundschaft kommandiert, zum Beispiel Nazi- und bürgerliche Stammtische aneinander vorbeidirigiert hatte, wenn ihr Mann, der ein guter Mensch war, aber seine Kräfte in den Schützengräben des ersten Weltkriegs verbraucht hatte, längst zu Bett gegangen war.

Kaum waren diese zwanzig oder – da es nicht nur um den Auszug der Kinder, sondern auch um den Abschied von ihren Eltern und den übrigen Angehörigen ging, für die sie bis zu deren Ende sorgte, sowie um die Abwicklung des ärztlichen Betriebs, in dessen Verwaltung sie sich aufgerieben hatte – diese dreißig Jahre vorbei, da vollzog sich jene Rückwendung meiner Mutter auf ihre Jugend, die ihr Alter prägen sollte. Das geschah natürlich in meiner Abwesenheit, bei meinen seltenen, aber regelmäßigen Besuchen habe ich das staunend bemerkt. Im Gegensatz zu andern Menschen, vielleicht auch bloß zu den gängigen Erwartungen, zog sie sich nicht zunehmend in sich selbst zurück, besann sich keineswegs auf ihre innere Welt, schwelgte nicht in Reminiszenzen, sondern organisierte zäh und unter den schwierigsten gesundheitlichen Voraussetzungen ihre gesellschaftlichen Bedürfnisse. Keineswegs genußsüchtig oder erlebnishungrig, wollte sie am Leben nur teilhaben und sonst nichts. Jedes Hobby war tendenziell Surrogat. Sie sammelte nichts und handarbeitete nicht. Sie wollte überhaupt nichts produzieren, schon kochen war ihr zu konstruktiv. Sie las gern, noch in der Form, daß ihr Mann ihr vorlesen mußte, aber was man ›die Welt der Bücher‹ nennt, war ihr vom Anspruch her fremd, und wenn sie sich für Musik begeisterte, dann weil ihr ein Fest bereitet wurde, indem ihr Mann die Schlafzimmertüren öffnete, so daß der Klang der alten Schallplattentruhe sich ungehindert bis zu ihrem Bett verströmen konnte, aber nicht, weil sie die Töne etwa mehr als die Menschen geliebt hätte. Sie gehörte nicht zu denen, die um jeden Preis etwas tun müssen und unruhig werden, sobald es an Aufgaben mangelt. Sie nahm am Leben teil, notfalls vor dem Fernseher, auch wenn sie das Geschehen ihrer Augen wegen eher fühlen mußte, und wenn es gar nicht ging – und gegen Ende ihres Lebens ging es manchmal nicht –, dann döste sie eben.

Als ihre Augen immer schlechter wurden, verwahrte sie sich dagegen, daß wir ihr die auditiven Hilfsmittel, Walkman und Kassetten, ins Haus schleppten. »So weit bin ich noch nicht«, vertraute sie mir an. »Noch bin ich zu interessiert«, meinte sie, das hieß an der Welt, am wirklichen Leben. Wenn du dich jetzt nicht darauf einläßt, wollte ich ihr antworten, wirst du es nie mehr tun. Genügsamer wirst du nicht werden, wollte ich sagen, brachte es aber nicht über die Lippen, denn ernsthaft mit ihr zu sprechen war ich nicht gewöhnt. Mit deinem Naturell, wollte ich sagen, so wie du bist, mußt du dich darauf einlassen, sonst wird dein Leben leer. Was Hänschen nicht lernt …, wollte ich mit der Abgeklärtheit meiner 55 Jahre bemerken. Was Lernen betraf, kannte ich mich aus, hatte ich mein Leben doch mehr oder weniger damit verbracht, einerseits, andererseits mit Belehrtwerden. Ihr hatte das nie eingeleuchtet. Es gab ein Alter, da lernte man – und sie hatte seinerzeit mühelos gelernt –, und ein anderes, da lernte man nicht, sondern lebte. Wozu hätte man sonst gelernt! Und wann wollte man leben, wenn man sein Leben lang lernte! Mein Leben blieb ihr deshalb immer ein wenig unverständlich. Nicht, daß sie es falsch oder gar dumm fand zu lernen. Aber ein bißchen fad fand sie es und wenig authentisch, ja durchaus ein bißchen ärmlich. Es war ja alles gut und schön, daß ich keine Kompromisse machte und das Leben ernst nahm, aber etwas anspruchsvoller hätte sie sich ihre Tochter doch gewünscht. Da ich immer nicht aufhörte mit den Theorien und auch vom Kommunismus redete in einem Alter, in dem sie selbst ihn längst losgeworden war, fand sie mich frühzeitig resigniert, im ganzen grau – und das, wo sie bis ins hohe Alter etwas Strahlendes hatte! Noch als sie mich äußerlich nicht mehr von meinen Kindern unterscheiden konnte, legte sie großen Wert darauf, mir klarzumachen, daß ich mich um mein eigentliches Leben betrog. Vielleicht hatte sie Angst, ich würde darauf kommen, wenn es zu spät wäre. Daß man in seinem Leben etwas verpassen konnte, davon war sie fest überzeugt, meinte, es am eigenen Leib verspürt zu haben. Ich dachte in meinem Zorn: Selbst wenn ich den Nobelpreis bekäme, würde sie behaupten, daß ich das eigentliche Leben verpaßt hätte; vom Festakt im Stockholmer Schloß einmal abgesehen, dem sie mit ihrer Würde Glanz verliehen hätte. Ich mußte meiner Mutter wenigstens in der absurden Hinsicht recht geben, daß ich den Nobelpreis ja nicht bekam, und vermutlich diente das fein ausgesponnene Argument auch zu nichts anderem, als mich für kurze Zeit als Preisträgerin zu fühlen.

Es gab ein Alter, da lebte man, und ein anderes, da hatte man abzutreten; und so sehr sie sich dagegen sträubte und dem Tod die Tür wies und sich von ihm durch kein gutes Wort – daß sie müde sei, genug gelebt und die Lust am Leben verloren habe oder daß ihr das Leben zu beschwerlich geworden sei, auch zu schmerzhaft – dazu bewegen ließ, ihm den kleinen Finger zu reichen, so wußte sie doch, was die Stunde geschlagen hatte. Hätte sie es sich nicht einbekannt, ihre Altvorderen hätten sie daran erinnert: ihre vom Schlaganfall stumm gewordene Mutter, unsere Großmutter, die ihre Faust gegen das Schicksal, ersatzweise gegen ihre Angehörigen schüttelte; ihr sterbender Vater, dem sie auftrug, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, das Jenseits betreffend; ihre Lieblingstante, die sie einmal aufforderte, die Zähne zusammenzubeißen. »Reiß dich zusammen!« hatte sie zu der alten Frau gesagt, die, von der Schaufensterkrankheit gepeinigt, auf der Straße stehenblieb, mitten im größten Verkehr. »Du wirst noch an mich denken!« hatte die sachliche Antwort gelautet. Meine Mutter hatte sich daran stets wie an einen Fluch erinnert. »Ich muß da durch«, sagte sie zu mir mit der tödlichen Ruhe dessen, der weiß, daß er nichts mehr zu gewinnen hat und die Kunst im Verlieren besteht. Dabei hatte sie mit Gott ihren Frieden gemacht, ja nie richtig mit ihm gebrochen. Aber daß er ein magerer Trost war, kein Ziel, daran zweifelte sie nicht. Und darin bestand auch der Unterschied zwischen ihr und den Philosophen: daß sie nicht einen Augenblick lang dem Wesen – oder der Idee – eine Chance einräumte, nicht einmal in Gestalt des Nationalsozialismus, auch wenn sie damals jung und voller Energie war und mit ihrem Mann nach eigener Aussage gern die Ukraine besiedelt hätte. Begriff war immer nur Begriff, fetischistischer Besitz von Leuten, die vom Leben keinen Zipfel erhaschen konnten. Wenn sie sterben mußte, dann war das noch lange kein Grund, was unabänderlich Tod war, zum besseren Leben zu verklären. Sie hatte zu Lebzeiten vielleicht nichts Bleibendes zustande gebracht. Aber auch das gehörte bereits zum Programm: nie sich an der Abstraktion vom Konkreten, an der Verschiebung des Eigentlichen auf das Höhere, des Jetzigen auf das Künftige zu beteiligen. Tod war Tod, auch wenn er hundertmal das ewige Leben genannt wurde.

Gnadenlos registrierte sie ihren Verfall, verbuchte Minuspunkt um Minuspunkt. »Wir fahren nicht mehr nach …« Sie lehnte es ab, den Verlust durch Verallgemeinerung zu verkleinern, schärfte ihn vielmehr durch sorgfältiges Abwägen, durch minutiöse Berechnung. »Ja«, sagte sie, »wenn es näher wäre, sagen wir 200 km. Das wäre etwas anderes. Aber achthundert, das ist zuviel.« Oder sie sagte: »Letztes Jahr konnten wir das noch. Dieses Jahr geht es nicht mehr.« Auch ganz sachlich: »Wir haben gehörig eingelegt.« Ich kannte den Ausdruck damals noch nicht, ebensowenig wie jenen anderen, mit dem sie ihre Lustlosigkeit umschrieb: »Ich habe wenig Meinung.« Beide Ausdrücke konnten als Teil ihrer Rückwendung auf ihre Jugend verstanden werden, die noch ganz andere Ausdrücke beherbergte, die nicht in meinen Wortschatz eingegangen sind, zum Beispiel jenen unvorstellbar – bezogen auf unsere Mutter unvorstellbar – lustigen Ausdruck, mit dem sie mich zu Beginn ihres Greisenalters etwa überraschte, als ich, über einem Kreuzworträtsel brütend, ratlos nach einem langen Wort für ›Drache‹ suchte. »Tatzelwurm«, sagte sie lebhaft. Ich konnte es nicht fassen, daß meine Mutter ein so lustiges Wort kannte. Ich konnte es einfach nicht fassen!

Was wäre gewesen, wenn meine Mutter in jüngerem Alter gestorben wäre, vor dreißig Jahren etwa, als sie schwer erkrankte? Wie hätte ich sie charakterisiert? Als konflikthaften Charakter vermutlich, eine in eine künstliche Unreife gebannte Frau, deren einzige Chance, das Fehlende nachzuholen, darin bestanden hätte, ihren Mann um ein beträchtliches zu überleben. Dreißig Jahre später, als ihre Töchter sich selbst schon wieder aus dem schwierigen Alter herausmogeln, erscheinen sie, erscheinen also wir mir als ein bloß vorübergehende Problem – und, auf der entgegengesetzten Seite, natürlich die Alten, die sie gemeinsam mit uns in die Zange genommen hatten –, ihr Mann dagegen, den ich sie aus feministischen Gründen gern hätte überleben lassen, als ihr unentbehrlicher Begleiter auf dem Weg zurück in ihre frühere Lebensform, in der es noch nicht um die Familie als Keimzelle der Gesellschaft, sondern um das Paar als Keimzelle der Geselligkeit ging. Von Negativismus und Verweigerung, einem schwierigen Charakter, einer künstlichen Protesthaltung, einem unerbittlichen Schmollen findet sich unter diesem Blickwinkel keine Spur. Womit nicht gesagt sein soll, daß meine Mutter leicht zu nehmen war; das wäre ein Unrecht an jedem, der mit ihr zu tun hatte. Aber nach Aussage ihrer Freunde, die sie nicht verlieren wollten, war sie noch in hohem Alter von lebendigem Temperament. Und sie mogelte nicht, sie kämpfte.

Unvergeßlich ist mir ihre schroffe Art, auch die zarte Rauhigkeit ihrer trockenen Hände. Vielleicht war schon in ihrer Kindheit etwas schiefgegangen; sie waren zwei Mädchen, wie wir, und hätten in Anbetracht des elterlichen Geschäfts bestimmt gut und gern Jungen werden dürfen, wenigstens eine von ihnen. Zum Weib war sie nicht herangereift, auch wenn sie sich der hübschesten runden Brust erfreute. Ein altes Mütterchen zu werden blieb ihr konsequenterweise versagt. »Ich geh allein«, schnauzte sie, wenn ich ihr meinen Arm anbot, ungern übrigens, ohne Ahnung, wie man jemanden stützen konnte, ohne ihn zu schleifen; an das ›Schleifen‹ meines Großvaters, ihres Vaters, hatte ich die abstoßendsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit. »Du könntest mir die Hand geben«, schlug ich vor. Bereitwillig gab sie mir ihre Hand. Sie war trocken und rauh, wie feinst gekörntes Schmirgelpapier. Wir gingen wie zwei Schulfreundinnen, ließen die Etikette außer Acht, fanden den Weg zurück in eine gleichgeschlechtliche, sorglose Jugend.

Das ist vielleicht das Charakteristische der Frauen in meiner Familie: daß sie sich nicht als Mutter verstanden, ganz gleich, ob sie sich ihr Leben ohne Kinder denken konnten oder nicht; daß, durchaus archaisch, das gesellschaftliche Denken bei ihnen überwog, wobei nicht nur dem Allgemeinen der Gesellschaft, sondern auch dem Besonderen des einzelnen Bedeutung beigemessen wurde, woraus sich für mich die kindlichsten Mißverständnisse ergaben, die eigene womöglich charismatische, um nicht zu sagen messianische Rolle betreffend, was mit einem Mangel nicht nur an Erfolg, sondern auch an persönlichem Interesse seltsam kontrastierte. Meine Mutter hatte sich zu ihrer Zeit pflichtschuldigst aufgerieben zwischen den Eltern, dem Mann und den Kindern, lauter Instanzen, die dem einzelnen vorgesetzt werden und die zugleich die gesellschaftliche Existenz nachhaltig verdunkeln. Es flößt mir eine beinah religiös zu nennende Ehrfurcht ein, daß sie ihre Pflichten – die ebenso über sie als Individuum hinweggingen, wie sie das Ganze, aus dem sie sich herleiteten, zum besonderen Schicksal destillierten – überlebt hat und als Person noch einmal transparent geworden ist für die Gesetze, die sie geprägt haben, denen sie gehorcht hat und die sie inspirierten.


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