Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Parodie auf Proust – In der Welt des Tai Chi (Fragment)

So klein war der Raum, in dem der Meister uns in seiner Kunst unterwies, daß der Unterricht den Charakter eines über jede Abweichung erhabenen Rituals annahm; so gering die Anzahl der Teilnehmer, daß es immer dieselben schienen – auch wenn sie natürlich wechselten, blieben sie nach Alter, Temperament und Geschlecht in geradezu metaphysischer Weise stabil. Sie erschienen mir wie Genesende oder Ermüdete. Sie hatten sich aus einer Krise herausgearbeitet und gönnten sich eine Pause, bevor sie in die nächste eintraten. In den mit der Andeutung einer Teezeremonie gefüllten Unterbrechungen plauderten sie denn auch vorzugsweise über Heilmittel und Reisen, und so sehr der Meister diese Unterhaltung duldete oder förderte: wenn sie die von ihm angebotene »Therapie« in die spiritistisch-esoterische Ecke zogen oder das Ganze in offenen Vergleich, ungeniertes Abwägen, gar in Abwerbung auszuarten drohte, verzog er angewidert das Gesicht, schließlich vertrat er eine rationalistische Auffassung seiner Kunst. Er lehnte nicht nur jegliche Verkleidung ab, sondern gab überhaupt dem Geist den Vorzug vor dem Körper, ließ andererseits aber keinerlei Überhöhung zu und als Trainingsziel und -form nichts außer Einsicht und Übung gelten; letzteres war unerläßlich, man brauchte gar nicht darüber zu reden, ersteres unersetzlich. Im allgemeinen schätzte er den Streit, und wenn er nicht müde wurde, den rationalen und, was Ziel und Zweck anging, mehr als genügsamen Charakter seiner Kunst zu betonen und gegen eine von Inbrunst und mystischer Empfindung bestimmte Auffassung zu verteidigen, so bedurfte er der letzteren zur eigenen Positionsbestimmung doch, und mit Rationalisten, mit denen er hätte einig sein, mit denen zusammen er vielleicht gar etwas zum allgemeinen Wohl hätte unternehmen müssen, konnte er gar nicht.

Mit solcher Entschiedenheit vertrat er übrigens die Gesetze seiner Kunst, daß es sich nicht empfahl, irgendeine seiner Anweisungen in Zweifel zu ziehen, gar ihn auf Widersprüche in seiner Argumentation und Praxis hinzuweisen. Sie waren unabänderlich, auch wenn bislang das Gegenteil gegolten hatte. Der Wechsel wiederum, so unvorhersehbar und plötzlich er eintrat, konnte als Ergebnis aufgehäufter Aversionen, schließlich reif gewordener Überlegungen, eines im geheimen wühlenden Hungers nach Neuem durchaus auf eine Geschichte zurückblicken und war auf seine Weise »ewig«. Durch die Art seines Eintretens glich er überdies einer Erscheinung, und zu deren Wesen gehört es bekanntlich, daß sie keine Geschichte hat. Nur wer in seinem eigenen Erscheinen von tadelloser Regelmäßigkeit und einer schon überflüssigen Pünktlichkeit war, hatte Aussicht, Zeuge einer Anspielung, einer wie immer bruchstückhaften Erklärung oder einfach nur der Erwähnung einer an sich ja unübersehbaren Tatsache zu werden, die ihn jedoch, solange sie unerwähnt blieb, an seinem Verstand zweifeln ließ: war das, was der Meister mit der größten Selbstverständlichkeit, wenn vielleicht auch mit der Andeutung eines ironischen Lächelns vormachte und sodann, als hätten wir zum Üben alle Zeit der Welt gehabt, mit der größten Ungeduld auch von uns einforderte, wirklich neu? Meistens geschah der Wechsel so unkommentiert, daß man ihn selbst dann verpaßte, wenn man im entscheidenden Moment dabei war. Es war wie der winzige Schock durch eine optische Täuschung: für den Bruchteil einer Sekunde war die Welt aus den Angeln gehoben. Wir liefen sorglos die Form, und nur in unseren angespannten Nerven zitterte es plötzlich, als ob die Scheiben geklirrt hätten, und wir wußten nicht, ob dies das Ende oder den Anfang eines Erdbebens bedeutete. Hatten wir »das« immer so gemacht?

Auch wenn das Vertrauteste einen fremd ansah, empfahl sich die Frage nicht. Hätte der Meister etwas dazu sagen wollen, er hätte es ja getan; zumal er alles andere als schüchtern war, auch nichts von Schonung hielt. Aber er wollte eben nicht. Erst eine nicht abzusehende Zeit später, als wir uns an das Neue bereits so gewöhnt hatten, als wäre es das Alte, bekannte er sich dazu, gewissermaßen im Modus des Lächelns, der Anspielung, und dann war es für uns weniger eine Mitteilung über die bereits alt gewordene Neuerung als vielmehr darüber, daß er sich ihrer bewußt war und wir uns nicht geirrt hatten. Die magere Information bedeutete uns nicht wenig und half uns bei den Mühen der Orientierung in diesem Tal der Tränen, das sich Tai Chi nannte oder, wenn man auf sich hielt, Taiji.

Gelegentlich nahm das Bekenntnis geradezu reflexive Züge an, beschwor die Erinnerung an das Alte, schien sich über die Neuerung fast ein wenig lustig zu machen. »Und ich, der ich ein Verfechter von Turnschuhen war«, sagte er etwa lächelnd, nachdem er – der Wechsel kam aus heiterem Himmel – mit einem Mal Socken bevorzugte; wer weiß, vielleicht würde er morgen »barfuß« predigen. »Vielleicht mache ich mich morgen ja für barfuß stark«, sagte er; sein Lächeln brachte eine neue Dimension ins Spiel, öffnete gewissermaßen ein Erzählfenster. Es kam uns so vor, als würde er jemanden zitieren; zum Lachen war es, daß dieser Jemand – er selbst war!

Wir glaubten ihm jedes Wort, auch wenn er sich selbst zitierte.

Manche gingen fremd, kamen aber zurück. Sie versorgten uns nicht nur mit dem unerläßlichen Minimum an Informationen über die Gemeinschaft der Tai Chi-Adepten, aus der der Meister in geheimnisvoller Weise ausgeschlossen war, und wir mit ihm, sondern trugen zur Aura der Unveränderlichkeit entschieden bei, ja waren Säulen im wechselvollen Spiel des Immergleichen. Der Meister bewies ihnen gegenüber eine Nachsicht, gar eine Anhänglichkeit, eine Treue, die uns Uneingeweihte erstaunen mußte. Waren sie nicht treulose Tomaten, unbeständig und flatterhaft wie Schmetterlinge? In ihrer unbestimmten Macht erschienen sie uns wie Hintermänner einer Verschwörung, Drahtzieher wovon auch immer, Honoratioren oder Kommilitonen. Wer weiß, vielleicht hatten sie den Meister auf seinem Ausbildungsweg begleitet, der dann ein Lehrweg wurde, während sie, Lehrende womöglich auf anderem Gebiet, in gewisser Weise stehengeblieben waren, auf dem Stand von Auszubildenden verharrten; sie hatten sich eben woanders entwickelt. Als Zeugen der Stunde Null, die die andern nur vom Hörensagen kannten, jener heiligen Krise, die den Lieblingsschüler des chinesischen Meisters und Leiter einer bereits gutbesuchten Schule in die notgedrungen meisterliche Rolle eines privatisierenden Lehrers für wenige katapultiert hatte, der seinen Weg unabhängig von Ruhm und Ehre verfolgte, der aber dadurch noch lange kein innerlicher Weg war, waren sie Leute von Gewicht; mehr Gewicht jedenfalls, als jene gewöhnlichen Sterblichen in die Waagschale zu werfen hatten, die allwöchentlich pünktlich zur Übungsstunde kamen, einige sogar zweimal; sie nahmen die Sache ernst, oder sie hatten sich in den Meister verliebt. Die Fremdgänger dagegen waren auf ihre Weise Könner. Sicher hatten sie Mut – sie schämten sich ihres mangelnden Fortschritts, der immer gleichen Fehler nicht –, und sie hatten Routine; nur konnte man wie gesagt keinen Prozeß erkennen, und ihre Sache bewegte sich auf nichts weniger als ein Ziel hin. Auf eine merkwürdige Art waren sie schon dort, wo wir andern erst hinwollten. Jedenfalls waren sie nicht die Bohne unsicher oder verlegen. Weder schüchtern noch ängstlich, nahmen sie den Übungsfaden da auf, wo sie ihn, manchmal vor Jahren, hatten fallen lassen. Ihnen fehlte alles, was unser Lernen lähmte, uns aber auf eigentümliche Weise in den Fortschritt drängte; nicht zuletzt jene ängstliche Spannung, die den Transfer von den Sinnen in den Kopf, vom Kopf in den Körper blockierte. Sie ängstigten sich nicht, aber sie lernten auch nichts. Mit an Übermenschlichkeit grenzender Exaktheit hielten sie über Jahre und Jahrzehnte das gleiche Niveau und standen längst außerhalb der Kritik. Mochten sie die Form schlecht laufen, so liefen sie sie mühelos doch bis zum Ende, und sie liefen sie auch nicht falsch, nur ein wenig anders, an ihr entlang oder neben ihr her, jedenfalls nicht kontra, sondern »para«. Ihre Kenntnis der Bilder und Begriffe, ihrer englischen Transkription, ihrer Bedeutung und Anwendung, war für uns verstörte Anfänger und, bestenfalls, trockene Nichts-als-Sportler geheimnisvoll und rätselhaft, wie eine Meisterschaft für sich. Nicht nur glich sie den Mangel an praktischer Übung und Technik aus, sondern versetzte letztere auch in den Rang einer nachrangigen Kompetenz. Sie waren Initiierte, wie die eldermen eines Sports oder Vereins, inaktiv, auch wenn sie gelegentlich mitmachten, aber engagiert, voller theoretischer Kenntnisse oder vielmehr Anekdoten, und respektierte Mitglieder des Ganzen.


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