Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Pathos – Porträt einer brotlosen Kunst

Es mag zwei Auffassungen davon geben, aber die eine weiß nichts von der anderen, und die andere hält von der einen weniger als nichts; sie spricht sozusagen nicht mit ihr.

Die eine entspricht dem geläufigen System: Einem Etwas ist etwas ›aufgehuckt‹, das mehr ist als es. Mit dem Etwas verbindet sich die Vorstellung einer Sache; mit dem, was ihr aufgebuckelt wird, die Vorstellung einer Idee. Mehr als die Sache ist die Idee schon deshalb, weil sie nicht aufs Konkrete, Kompakte, weil sie nicht aufs Seiende beschränkt ist; die normalen Grenzen der Gegenstandswelt, wo man geschätzt, gewogen und ausgemessen werden kann, gelten für sie nicht. Geistiges kommt hier auf seinen ursprünglichen Vorteil zurück: Ungenau zu sein, wolkig, nebulös, per flüchtiger Beschaffenheit einfach nicht fest, gilt bei ihm als Entgrenzung; daß es zu keiner Bestimmtheit gelangt, gar als seine Unendlichkeit. Die Sphäre, in der der Mangel des Geistigen nicht durch vergrößerte Anstrengung, zum Beispiel durch eine ins Absurde reichende Präzision, eine in pure Beschwörung ausartende Bekräftigung ausgeglichen werden muß, sondern unmittelbar in Reichtum umschlägt, ist die Sphäre der Bedeutung. Um in Reichtum umschlagen zu können, müssen die Sachen so fraglos – und in ihrer Genauigkeit und Bestimmtheit so schlechthin unbezweifelbar – sein, wie sie vom Geistigen schlechterdings getrennt sind; letzteres, das dann von aller Bestimmtheit befreit ist, erst ›aufgehuckt‹ kriegen. Wo die Bedeutung, von der Sache getrennt, unmittelbar identisch mit dem Bedeutenden wird, da ist das Reich des Teufels. Es ist das Reich des bösen Geists, der nicht verneint, sondern bejaht, der nicht zerstört, sondern kreiert, indem er unermüdlich Sachen von ihren ursprünglichen Bedeutungen trennt und sie mit dem Bedeutenden, seiner ureigenen creatio ex nihilo des Bösen, verknüpft, ihnen, kurz und undämonisch gesagt, als Bedeutung also das Bedeutende zuweist. Bei diesem affirmativen Umgang mit dem Bedeutenden befinden wir uns mitten in der Sphäre des kommunen Pathos. Wir haben teil; wir sind pathetisch.

Das andere Pathos, wie gesagt, hat mit diesem nichts zu schaffen; es ›spricht‹ aus den verschiedensten Gründen nicht mit ihm:

Wir befinden uns in der Sphäre des pathetischen Pathos, kein Zweifel. Vom Existentialismus unterscheidet es sich, man könnte spitz sagen: wie der gute Geschmack vom schlechten. Noch spitzer: Bei ihm ist der Reichtum der Welt nicht in den Hunger desjenigen übergegangen, der sie verschmäht. Oder, ›triebhafter‹: Die Reize des verschmähten Objekts haben nicht die Begierde desjenigen potenziert, dem die Trauben zu sauer sind. Was Freud und den gesamten nach ihm kommenden Psycholanalytikerschulen nicht gelang, nämlich Sublimierung, die Veredelung von Trieben, ihre Ablenkung auf Höheres, nicht nur zu postulieren, sondern konsistent darzustellen, Sublimierung zu zeigen, das ist dem Pathos eine Selbstverständlichkeit. Sublimierung ist gleichzeitig sein Reich und sein Ressort: es geht davon aus und es sublimiert tagtäglich. Während im psychoanalytischen Kontext sublime Werke die Existenz von Sublimierung beweisen müssen – aber natürlich niemals können, da sie immer nur das Ergebnis charakterisiert, nicht wie der Begriff das Geschehen, das zu ihm führt –, enthält Pathos, als Vorgang oder Verlauf, als Inbegriff der Darstellung, nie bloß Ergebnis; am Ergebnis selbst ist Pathos vielmehr die Form, als Form aber ist es das geronnene Werden. Pathos, auch wenn bzw. indem es völlig leer daherkommt, enthält bereits das entscheidende Element der Verwandlung: den Themenwechsel vom Trivialen hin zum Sublimen, das heißt den Verzicht auf Befriedigung am Unmittelbaren; wohlgemerkt aber nicht den Verzicht auf unmittelbare Befriedigung, freilich am Sublimen!

Der Existentialismus setzt ja noch ganz cartesianisch bloß auf die Neubegründung eines bei ihm moralischen – beim Cartesianismus erkenntnistheoretischen – Optimismus, nicht auf die Herstellung einer Alternative zu ihm. Von daher hat auch er dieses Taschenspielerhafte, Trickreiche, dieses cartesianische »nachdem wir die Welt neu begründet haben, können wir sie in der bisherigen Weise wieder aufbauen«, oder »nachdem wir uns unseres Instrumentariums vergewissert haben, wissen wir jetzt, daß die Welt wirklich so ist, wie wir immer glaubten«, was ja auch nur eine Variation der altehrwürdigen, vom Furor der Geometrie getriebenen Formel ist: »Nachdem wir die Welt bewiesen haben, wissen wir, daß sie ist«, dieses auf dem Glück des geometrisch Gegebenen basierende, durch und durch quietistische, eben analytische quod erat demonstrandum … Niemand, der im Geist des Cartesianismus erzogen wurde, kann indessen leugnen, daß die billige Wiederherstellung der Welt vermittels ihrer radikalen, auf ihre Herstellung abhebenden Überprüfung einer Konstituierung des Subjekts dient, einer regelrechten Inthronisation der überprüfenden Instanz, so daß fortan alle Wirklichkeit gewissermaßen rückenlastig steht, nach hinten gelehnt, nicht mit ihrem ganzen Gewicht in den Boden gerammt, sondern leicht gelüpft, so daß man schon ahnt: auch die schwergewichtigste Tatsache findet ihren Halt nicht bei den Füßen … Auch niemand, der im Existentialismus groß geworden ist – und das ist die ganze Nachkriegsgeneration, sofern sie überhaupt in einem Geist groß geworden ist –, wird leugnen, daß die Neuerrichtung des Humanismus auf den Ruinen der Metaphysik, die Reinthronisation des quia absurdum unter säkularisierten Bedingungen, nicht zwar zu einem ungebrochenen Subjekt geführt hat, das als existentialistisches sich ja ausgesprochen gebrochen präsentiert, wohl aber zu einer größeren Unmittelbarkeit der ›Sachen‹, denen es sich zuwendet. Existentialistisch betrachtet, ist die Welt einfacher, als sie sich dem nichtexistentialistischen Blick präsentiert; er, der Existentialismus, also eine Vereinfachung; was gemessen an seinen Ansprüchen alles andere als ein Kompliment ist.

Pathos wird vom Existentialismus zwar nur allzugern als die ihm gemäße Haltung in Anspruch genommen, aber er erwischt nur die affirmative Seite davon. Man könnte sagen, daß er jenes geläufige Pathos, das aus dem Konkurs der normalen Bedeutung erwächst, auf den Begriff bringt – und das entspräche ja auch seiner historischen Zuordnung zur ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, in der die Säkularisierung der normalen Bedeutungen stattfindet, wogegen das schwerfällige 19. Jahrhundert, in das das Alltagspathos, das affirmative Pathos gehört, von der Substitution der trivialen Bedeutung durch eine bedeutungsvolle Bedeutung lebt: Wir glauben den Tod zu erleiden, aber wir erringen die Unsterblichkeit dessen, der fürs Vaterland fällt (und werden konsequent auf den Ehrentafeln der Gefallenen verewigt). Im Existentialismus sterben wir zwar in echt, aber daß wir es tun, ist das Zertifikat unserer Echtheit. Pathos im nicht trivialen Sinn dagegen bedeutet die Verabschiedung der Bedeutung; das heißt nicht bloß des Bedeutungsvollen, an dessen Stelle, existentialistisch, dann die erneut aufgeladene Bedeutung treten könnte, sondern jener offensichtlich unzuverlässigen und nur scheinbar primären Bedeutungen selbst, die, wenn sie ein primäres, unentbehrliches System darstellten, wahrhaftig nicht vermittels jeder hergelaufenen Strategie abgespalten und entsorgt, als System aber aus den Angeln gehoben werden könnten.

Das System, das aus den Angeln gehoben zu werden verdient, weil es so wenig stabil ist bzw. weil es selbst bereits eine Destabilisierung darstellt, ist natürlich das der Unterscheidung von Bedeutungsträger und Bedeutung, von Signifikant und Signifikat. Streng nach der Regel »was in einer Trennung gründet, ist unheilbar getrennt« und ihrer Konsequenz »die Zusammenfügung von etwas, was aus einer Trennung besteht, ist also notwendig korrupt«, ist mit der Unterscheidung von Signifikant und Signifikat ein System der Wucherungen nicht nur von Bedeutungen, sondern an der Bedeutung selbst entstanden, bei geringem Bezug zwischen ihr und ihrer ›Bedeutung‹. Triviales Pathos ergeht sich in diesem System und spricht daher laufend Vertrautes an, ist aber dem beständigen systemimmanenten Konkurs ausgesetzt. Pathetisches Pathos dagegen verkörpert das Modell einer nicht spaltbaren Haltung oder Realität – also bereits ein zwischen Haltung und Realität nicht spaltendes Modell –, und es verkörpert in jedem seiner nicht aufspaltbaren Elemente die Kosten eines solchen Modells:

Gegen dieses vertikale System, in dem eine Schicht die Realität der jeweils anderen Schichten verbürgt und die gegenseitige Gewährleistung eine durch und durch scheinhafte und deshalb auf Realität förmlich fixierte Realität produziert, setzt das nicht triviale Pathos ein Modell, das nicht mehr und nicht weniger wirklich zu sein beansprucht als ein Dreieck – wie es noch Kant als eine nie beschwichtigte Provokation, eine für die Nicht-Geometrie nie gelöste Aufgabe beständig vor Augen stand. So wie die geometrische Figur eine wirkliche Lösung ist, nur leider von einer aus der Willkür der Selbstbestimmung heraus gestellten Aufgabe; so wie sie jeweils die vollkommene Bewältigung eines Problems darstellt, das freilich vor seiner Bewältigung gar nicht existierte, so daß man also auch nicht genau weiß, was sie eigentlich ist – so ist auch das im Pathos Hervorgebrachte eine echte Lösung, nur weiß man nicht, wovon; es ist der berühmte saltus, ein Sprung, aber nicht hinein in die Fülle der Bedeutungen, ins Bedeutungsvolle, sondern hinaus aus diesem ebenso elaborierten wie kläglichen System, in dem sich das tausendfach Abgespaltene erneut mit sich ins Benehmen setzt. So ist das im Pathos Hervorgebrachte vollkommen und, als Bruch mit dem Referenzsystem, zugleich vollkommen sinnlos. Was es schafft, erfüllt den Inbegriff des Realen, aber leider nicht den Begriff; es ist vollkommen real und, insofern es mehr zur Vollkommenheit neigt als zur Realität, sich dort anlehnt, zugleich vollkommen irreal. Sein Problem – von der normalen Realität oder vom trivialen Pathos aus betrachtet – besteht in seiner hoffnungslosen Neigung zur Abstraktion, zur Konstruktion; wo immer es einen abstrakten Begriff ›aufschnappt‹ – Vollkommenheit, Lösung, Realität, was weiß ich –, da neigt es sich diesem Begriff zu, fängt ›wild‹ an zu konstruieren.

Das Pathos etwa, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, das Prousts Recherche du temps perdu nicht bloß trägt, tatsächlich vielmehr der Modus und der Motor ihrer Hervorbringung, ihr Konstruktionsprinzip ist und ihr eigentliches Sein charakterisiert, markiert den Unterschied zwischen dem Bild einer Epoche und einem Werk, das Epoche machen soll. Es markiert auch den Unterschied zwischen der Rekonstruktion und der Konstruktion einer Kindheit. Dieser Unterschied ist der zwischen Schöpfung und Nachschöpfung im rigorosen Sinn: was nachgeschaffen wird, existiert (schon), was geschaffen wird, nicht. Letzteres existiert auch in der originalen Schöpfung nicht; wäre es anders, kein Pathos wäre vonnöten. Vielmehr existiert es unter der Bedingung, daß es nicht existiert; daß es trotzdem ist, dazu ist Pathos reichlich vonnöten, unbegrenzt Pathos und eigentlich nichts als das. Der pathetische Charakter eines Werks wie das von Proust – und daran läßt er sich überprüfen –, hat, was die wesentlichen Bestimmungen des ›normalen Lebens‹, auch der normalen Ästhetik angeht, gewaltige Verluste aufzuweisen; es ist künstlich oder umständlich, eine Strapaze für das Fassungsvermögen, langweilig, im höchsten Maße ichbezogen, kennt keine Grenzen. Wo es aber Stärken hat, etwas, was einen anrührt, Sehnsucht erzeugt, einen unbestimmten, aber imperativen Nachahmungs- oder Nachfolgedrang weckt, da hat es mit dem ›normalen Leben‹ nichts zu tun, kann also auch gar nicht nachgeahmt werden; der Weg führt vielmehr durch die jeweils ganz persönliche Hölle von Selbstzerstörung und Konstruktion; siehe noch einmal Proust.

Der wesentliche Impuls kommt gewiß von der Sehnsucht, und die wiederum hat eher bloß zufällig mit Gefühlen, prinzipiell dagegen mit der Vollkommenheit zu tun; diese Vollkommenheit – die ja um den Preis des Verzichts auf fast alles erreicht wird (s.o.) – erzeugt Gefühle. Ein anderer Impuls ist dagegen harmloser Natur, das heißt, er wäre es, wenn er – vom ›normalen Leben‹, das seine Paradigmata verteidigt, – nicht perhorresziert würde. Es ist das Fremde, Unverstandene, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen: Der Bestimmungen des ›normalen Lebens‹ enträt es, darin ist es ja unverstanden und fremd; eigenen Bestimmungen folgt es, sonst wäre es nicht. In dem Maß, wie wir es aushalten und nicht bloß abwehren oder uns von ihm faszinieren lassen, in dem Maß vielmehr, wie wir uns von seiner Andersheit in die Sphäre der Konstruktion hieven lassen, in die Sphäre der tausend Möglichkeiten, entwickeln wir für Pathos einen Sinn oder sind vielmehr selbst schon pathetisch.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 124 (2004), 93–96.

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