Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Porträt einer Protestantin in heidnischer Zeit

On dirait une réaliste – wenn es nicht der lautere Wahnsinn wäre. Da man unendlich schwankt, ob man ihren Wahn im Gefühl oder im Verstand, sprich im Leben oder im System, im Gerüst und Gebälk oder in den dunklen Tiefen des aus tapferen Mauern errichteten Hauses ansiedeln soll, vermittelt sie neben dem Eindruck außerordentlicher Festigkeit und Klarheit zugleich den einer ätherischen Flüchtigkeit, so als bestünden die andern aus Knochen, sie aber hätte Flügel.

Sag zu ihr, ich habe für dich ein Rendezvous mit einem Mondkalb gebucht, und sie merkt sich das Datum (sie braucht kein Notizbüchlein, sie hat alles im Kopf). Lebt man in geordneten Verhältnissen, dann kann man sich auch mit Außergewöhnlichem einlassen, um nicht gleich zu sagen mit Außerirdischen: auch sie werden ihre Argumente begründen, das Gesagte gegebenenfalls mit einer Fußnote versehen müssen; kurz, sie wird sich zurechtfinden. Und im übrigen, wenn Neues theoretisch jederzeit möglich ist, warum nicht auch praktisch, und warum dann nicht ein Mondkalb.

Sagst du zu ihr, aber ein Mondkalb, dann sagt sie, ja schon. Ihre Art ist es nicht, vorschnell zu urteilen, gar prompt zu reagieren. Wenn du an eine Kraft appellierst, die aus dem Bauch kommt, wirst du enttäuscht. Natürlich ist ihr das Ungewöhnliche deines Vorschlags aufgefallen, sie spinnt ja nicht. Aber hat nicht, erstens, ohnehin alles, womit du ihr kommst, für sie das Kaliber eines Mondkalbs? Und hat sie dich, zweitens, nicht bereits das eine oder andere Mal, diskret natürlich, aber doch wünschenswert deutlich (sie ist nicht unbewehrt), darauf hingewiesen, daß du eine Neigung hast, aus allem ein Mondkalb zu machen? – Was nicht das gleiche ist, denn einerseits bist du ihr wesensfremd, und andererseits hast du bloß diesen Hang zu übertreiben, der ihr auch fremd ist, weiß Gott, aber doch nicht rätselhaft, und sie kann auch besser damit umgehen; dégonfle, sagt sie, laß die Luft raus, nicht alles, was dir als Mondkalb vorkommt, ist auch schon eins. Sie kann übrigens ausgezeichnet Französisch, aber wenn du ihr mit Chinesisch kämst, würde sie auch sagen, laß mal sehen. Sie kann kein Chinesisch, aber probieren kann sie ja mal. Sie hat schon manches geknackt, was für andere chinesisch gewesen ist. Und wenn sie Chinesisches versteht, warum sollte sie dann nicht chinesisch verstehen; chinesischer als chinesisch wird es nicht sein. Auf ihren Verstand kann sie sich jedenfalls verlassen, was ihn betrifft, ist sie mit Geduld und Selbstvertrauen ausgestattet. Auch chinesisch ist eine Sache des Verstands (der ist umfassend und auf seine Art vollständig, was er umfaßt, das kann sich ihm nicht entziehen), und daß bei dieser Sprache Geduld gefragt ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Nur mit dem Selbstvertrauen weiß sie nicht genau, steht das Chinesische doch im Ruf, es schon manchem ausgetrieben zu haben. Hingucken kann sie trotzdem. Auch das ist schließlich eine Sache der Überzeugung, jenes Vertrauens, das im Unbekannten den virtuellen Bestandteil der eigenen Kenntnisse, im Chinesischen also eine Sprache wie jede andere erkennt. Wofür hat Gott ihr schließlich den Verstand gegeben? Damit sie sich am Rätselhaften tapfer versucht: Kombiniere!

(Vorausgesetzt immer, daß das Unbegriffene keine eigene Seele hat; die Folgen wären unausdenkbar, fremd hieße: ein anderer, bekannt: ein anderer werden, nicht: das Fremde entziffern. Um dieser erschreckenden Möglichkeit vorzubeugen, empfiehlt es sich, selbst möglichst wenig Seele zu haben; wenn es einem gelingt, sachlich zu bleiben, wächst gewissermaßen die Chance, daß auch die Sache keine Seele hat. Ungestraft darf man sie entziffern. Aber das wie gesagt in äußersten Parenthesen.)

Drittens, wie gesagt, muß Neues tendenziell möglich sein. Das heißt, wenn es sich das eine und entscheidende Mal tatsächlich um ein Mondkalb handeln sollte, dann muß es in aller Form zur Kenntnis genommen werden; kneifen gilt nicht. Aber wenn schon der Briefträger im Treppenflur, die Kassiererin im Supermarkt, vom Fahrschein-Kontrolleur ganz zu schweigen, ein potentielles Mondkalb und also zum Fürchten ist, kann sie sich nicht vorstellen, daß ein echtes Mondkalb schwerer zu handhaben wäre als diese falschen.

Im Grunde liegt das Problem darin, daß sie alles als Probe auf ihre eigene Verläßlichkeit begreift. Wird sie standhalten? Diese Frage ist so spannend, daß der Gegenstand sich zur Lappalie verkrümelt. Je verrückter das Ansinnen, desto härter die Probe. Je härter die Probe, desto offensichtlicher, daß hier etwas probiert wird; im metaphysischen Rahmen natürlich.

Sagst du, denk doch mal nach, sagt sie, ja schon. Natürlich ist ihr aufgefallen, daß etwas nicht stimmt. Aber sie hat sich gesagt, das ist eben die Probe. Sie hat den Kopf gesenkt (Gernhardt!) und so getan, als wenn sie nichts gemerkt hätte. Auf diese Weise kann man zwar das Plausible vom Absurden nicht unterscheiden. Aber vielleicht ist das durchaus im höheren Interesse.

Vom Gutachterstandpunkt gibt es an ihrer Intelligenz nichts auszusetzen, nur ihr Urteilsvermögen ist getrübt. Dabei ist sie die verkörperte Urteilskraft; nicht, weil sie alle Dinge richtig beurteilt, sondern weil sie der felsenfesten Überzeugung ist, daß genau dies von ihr verlangt wird. Den Verstand betätigen und urteilen, das ist für sie eins.

Ihre Urteilsfähigkeit ist blockiert, das Vermögen getrübt durch die Überzeugung, daß sie ständig auf die Probe gestellt wird; was hirnrissig ist angesichts von Zusammenhängen, die man nicht einfach zur Kenntnis nehmen kann, frei nach dem Sesamstraßen-Prinzip: Und was kommt jetzt? Die mit erkenntnistheoretischem Problembewußtsein eruiert werden müßten. Aber für sie ist ja alles, was existiert, vernünftig. Nicht weil es existiert, wohlgemerkt, sondern weil es vernünftig ist, existiert es; nur sie selbst steht in Frage. Da sie ständig geprüft wird, fällt es ihr schwer, gegenüber den Dingen, vermittels derer sie geprüft wird, die selbständige Haltung einzunehmen, die für einen vernünftigen Umgang mit ihnen erforderlich wäre. Sie spürt – sie spinnt ja nicht –, daß sie in irgendeiner Weise versagt und gerade da, wo die andern es nicht tun. Gerade die, die ihr in punkto Abstraktion und Klarheit nicht das Wasser reichen können, sind ihr überlegen. Hier fühlt sie sich eigentümlich schwach, kraftlos, desorientiert und in hohem Maße bedürftig, so als müßte sie sich mühselig erarbeiten, wovon andere ausgehen, ihre Kraft aber wäre wie bei den andern auf bloße Anwendung, nicht auf Grundlegung berechnet; sie reicht immer nicht. Tapfer und selbstlos, wie sie ist, schreckt sie vor keiner Anstrengung zurück. Mit einem unmöglichen Budget auskommen oder eine unmögliche Frist einhalten, mit einer unmöglichen Diagnose leben zu müssen, der Gedanke allein verschafft ihr Energie. Aber frei in den Tag hinein denken, das heißt dem Gedanken geben, was des Gedankens ist – weiß er doch, wo es langgeht, und er weiß auch, wozu er da und wann er zu Ende gedacht ist –, die schiere Vorstellung macht ihr Bewußtsein trübe. Manchmal wirkt sie auch gefühllos, weil sie vergessen hat, wie Mitleid funktioniert: daß man es hat, oder auch nicht. Das Wie wird ihr zum Problem. Manchmal fühlt sie sich generell überfordert.

Das ist mir eine schöne Realistin, die ständig ihre Realität unter Beweis stellen muß.

Harte Tatsachen liebt sie über alles. Woran man nichts ändern kann; und es muß durchaus nichts Böses sein. Woran sich auch dann nichts ändern würde, wenn man selbst anders wäre. Was man auf sich nehmen, ertragen muß. Aber wehe, es kommt einer und will es abstellen! Sagt: Stehst unnötig gebeugt, hast womöglich einen Hang dazu! Schäm dich! Bist doch keine Karikatur. Sei ein Mensch!

Wenn sie sich das vorstellt, dann weiß sie, daß der Zusammenbruch nicht fern ist. Aber im Prinzip kann sie sich das nicht vorstellen, und sie hat auch keine Ahnung, wie ein Zusammenbruch auszusehen hätte, sie ist ja nicht hysterisch. Nur manchmal wird ihr eigentümlich dunkel, so als hätte sie einen Lichtschalter betätigt. Nicht einmal sagen kann sie, ob es innen oder außen dunkel wird. Sie weiß überhaupt nichts mehr.

Natürlich findet man nie Tatsachen, die so hart sind, daß man sich ihnen nur noch zu fügen braucht, obwohl das ein rundum ersprießlicher Gedanke wäre, geradezu eine Utopie. Wenigstens einmal möchte sie es erleben, daß alle Menschen so reagieren wie sie. Sich anpassen und anstrengen, das ist ihr Credo. Manchmal möchte sie an der persönlichen Ehrlichkeit der andern zweifeln, obwohl sie sich bemüht, von ihnen nur das Beste zu denken. Sind sie so frei, wie sie tun? Oder etikettieren sie bloß die Notwendigkeit in Freiheit um, sie selbst dagegen, die von Pflicht spricht, hätte sich ein Quentchen Freiheit erobert? Im Grunde ist sie davon überzeugt. Aber Angriffslust ist ihr fremd. Die Hemmung ist ihr auf den Leib geschrieben. Zunehmend ist sie auf Mißverständnisse gefaßt, um nicht zu sagen auf Unverständliches. Hat sie die Hoffnung auf Verständigung aufgegeben, auf den Grundkonsens, oder bezahlt sie zunehmend mit Verwirrung, daß sie selbst partout nicht über ihren Schatten springen will?

Wer glaubt, daß sie nicht spontan sein kann, irrt. Aber ihre Spontaneität hat etwas Forciertes; sie stimmt nicht zum Rest. Spontaneität, bei ihr, ist die zufällige Abwesenheit von Verhältnissen, die sie unterbinden, eine muntere Gemütslage, eine fröhliche Disposition und jedenfalls kein »entfalteter Umgang mit dem Entfalteten«. Auch das Provisorische ist für sie an sich keine Bedrohung, wenn es am Anfang steht, also da, wo es hingehört. Aber wenn ihr die Dinge entgleiten, lebt sie in einem geradezu beängstigenden Provisorium, und von ihrer Spontaneität bleibt nichts als der nackte Reflex; so wie der Hund beim Anblick seines Herrchens mit dem Schwanz klopft. Nicht einmal auf ihren Verstand kann sie sich länger verlassen. Das Programm rattert. Hilflos rudert er herum. Soll das die Ausrüstung sein, fragt man sich, mit der sie im täglichen Leben besteht? Solange die Probleme die kommensurable Form von Pflichten haben, mag es hingehen. »Schafe können sicher weiden, wo ein guter Hirte wacht.« Aber was, wenn der Hirt ein Schaf ist!

Da rächt es sich dann, daß sie in harmlosen Zeiten allzu harmlosen Umgang mit ihrem Verstand pflegt, so als wäre er dem Menschen nicht nur aufgegeben, sondern eigen, wie die Farbe gelb dem Zitronenfalter; wäre ja lachhaft, für letzteren aus der Farbe eine Mission ableiten zu wollen! Schwimmen ihr die Felle weg, schwimmt ihr Verstand auch; oder ihm, dann sie. Unvorstellbar, daß sie ohne ihn zurechtkommt. Sie wüßte nicht, was da funktionieren sollte; nicht wie, also, sondern was!

Offenkundig hat sie ein Problem. Man sieht es nur nicht. Oder vielmehr, man sieht, daß sie ein Problem hat. Aber man sieht das Problem nicht. Ihre ganze Persönlichkeit, ihr Leben, ihre Kraft muß sie einsetzen, eine Hemmung, Krankheit, Störung muß sie sich nachsagen lassen, damit das Problem deutlich wird (nicht das Problem, wohlgemerkt, sondern daß es eins gibt). Man kann es auch so sagen: Andere nennen es ein Problem, für sie ist es wie ein Auftrag. Gäbe es diesen Auftrag nicht, wo wäre das Problem?

Ihr Problem ist der Protestantismus; wenn es sich um den Protestantismus handelt, kann es sich nur um den Vater, und wenn es sich um den Vater handelt, kann es sich in ihrem Fall nur um die Tochter handeln. Nur Idioten meinen, daß die Tochter dasselbe wie ein Mädchen ist; es steht ein Akt dahinter, vergleichbar der Investitur. Der Vater hat sie von dem Makel, ein Mädchen zu sein, feierlich absolviert – Ego te absolvo! –, indem er sie zur Tochter erwählte. Die Tochter ist der Nachfolger des Vaters im Geiste. Das heißt genau nicht, daß sie sich auf Menschenwerk stürzen muß, so wie der Vater es getan hat und der Sohn tun würde, es sei denn, er geht am Vater zugrunde oder wird ein Hallodri. Es heißt lediglich, daß sie die Wahl des Vaters rechtfertigen muß: durch Entwicklung ihrer Gaben, durch unbändigen Fleiß, nicht aber durch bleibende Werke. Darum wird sie auch nicht Ingenieur, Physikassistent oder Chefchirurg, sondern sagen wir Sekretärin, Archivarin, der gute Geist oder die rechte Hand von Leuten mit Ideen, gelegentlich eine gefürchtete Kritikerin, deren Urteil gleichwohl gern angenommen wird, denn sie konkurriert ja nicht. Manchmal vergißt sie sich auch, will kaputtmachen, was sie kaputtgemacht hat; aber das ist schon verdammt aus dem Nähkästchen geplaudert. Alles in allem würde niemand an ihren glänzenden Fähigkeiten zweifeln, so daß sie zur geistigen Erbin, auch ganz konkret zur Verwalterin des väterlichen Erbes prädestiniert scheint, würde ihr nicht eben diese töchterliche Verstörung dazwischenkommen. Seine Frau ist ja nicht einmal mit ihm verwandt, hat keinen Anspruch auf seine Talente, trägt womöglich selbst ein gerüttelt Maß Schuld daran, daß das Mädchen allzusehr in der Potenz verweilt. Vielleicht aber ist auch alles eine knallharte Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter, in deren Hitze die Reste unreiner Mütterlichkeit, Zaghaftigkeit, Zögerlichkeit verbrennen.

Denn zweifellos ist etwas zwischen Vater und Tochter, was die holde Nachfolge hintertreibt. Ist es die Feierlichkeit der Wahl selbst und die damit einhergehende Ehrerbietung dem Phänomen an sich gegenüber, gar ein mit untergründigem Triumph einhergehender Kleinmut, so als wäre das eigene Versagen eine erstrebenswerte Leistung, ein Beweis nämlich für die Spiritualität des Auftrags? Oder wäre im Gegenteil, ein Stachel im Fleisch des Vaters zu sein, die eigentliche Absicht, ginge es gar nicht um Fortsetzung, sondern um Abrechnung?

Sie bringt nichts voran. Aber sie hält die Stellung. Verweigerung ist das Wesen ihres Protests.

Manchmal fragt sie sich selbst, wie es um ihre Gaben bestellt ist. Wie klug ist sie wirklich, und woher rührt der Kratzer an ihrer Intelligenz, diese minimale Parese, die sie lähmt? Daher, daß sie bloß eine Tochter ist – eine Herrlichkeit, gewiß, wenn man an ein gewöhnliches Mädchen denkt, aber doch ein Jammer im Vergleich mit einem Sohn! Ist der Tochter nicht in die Wiege gelegt und auf den Weg gegeben, daß sie sich des Vaters zwar würdig erweisen muß, aber keinen Schatten auf ihn werfen darf (oder einen Schatten auf ihn werfen muß, aber ihn nicht förmlich desavouieren darf)? Oder ist – da sie ja als Mädchen geboren, aber zur Tochter erwählt wird – ihre Klugheit womöglich angeboren, und die Gnade, die ihr verliehen wurde, wäre nichts als die darüber geschobene Dummheit?

Intelligent ist sie zweifellos und hat es durch unbändigen Fleiß auch zu Können gebracht, es also nicht bei den Anlagen belassen, wenn auch das Talent nicht gerade vermehrt, ja, das ist es, das Talent nicht gemehrt!

Im Grunde nicht geboren, sondern erwählt, ist sie auf eigentümliche Weise immer in der Transzendenz. Von daher ihre Rechthaberei, aber auch ihre latente Verwirrtheit. Gnade kann man sich nicht aussuchen. Man kann sie nicht meistern. Man kann sie widerrufen, aber auch dann bleibt man ein Leben lang an den Widerruf fixiert, geht nicht weiter, sondern beharrt auf, rührt sich buchstäblich nicht von der Stelle. Eigentlich ist jeder, der nicht geboren, sondern erwählt, also um seine eigene Geschichte gebracht wird, ein potentieller Apostat.

Wie sie auch grübelt, das eigentümlich aporetische Sinnen findet diesseits des Problems statt. ›Über‹ geht nicht; ihr Leben lang arbeitet sie daran, so zu denken, daß die Ergebnisse den Rahmen des Gegebenen nicht sprengen. Die Sprache, dieses unmittelbare Ausdrucksorgan väterlichen Geistes, verstummt angesichts der Aufgabe, über ihn nachzudenken und ihn in Frage zu stellen, sie leistet nicht den benötigten Dienst.

Woran sie nicht denken darf, unleugbar ist es da, man kann es nicht wegdenken, aber auch nicht aufdröseln. Gegen etwas andenken heißt aufgelöst werden. Man könnte es auch einfacher ausdrücken, leiden, wäre da nicht diese eigentümliche Benommenheit, die noch den Kummer in Watte packt.

Daß die von ihr unermüdlich praktizierte Vernunft eine Mogelpackung ist, das hält sie für unmöglich, in dem Sinn, daß es auch nicht so schlimm wäre. Darüber muß ich in Ruhe nachdenken, sagt sie bereitwillig, trägt man ihr etwas an, was sie nicht sogleich überblickt, was sie womöglich negiert. Darüber muß ich nachdenken, sagt sie, und das tut sie dann auch: über das Negative so nachdenken, als wäre es positiv. An ihrer gelassenen Reaktion kann man immerhin erkennen, daß sie sich nicht sorgt. Der Verstand kann sich nicht nicht bewähren; als Funktion und Tätigkeit in einem ist er vernünftig. Auch über sich kann man nachdenken, so wie man über alles mögliche nachdenken kann. (Das ist ja der Kern ihrer latenten Selbstverachtung: daß sie sich für ›alles mögliche‹ hält.) Auch über ihn, übrigens, selbst wenn da die Luft dünn wird; sollen es die Nichts-als-Denker tun, die im Elfenbeinturm des reinen Denkens sitzen, ihr ist das irgendwie zu wenig – gerichtet. So ist das Ganze in gewissem Sinn unproblematisch. Man muß verantwortungsvoll mit dem Verstand umgehen, aber man ist nicht für sich verantwortlich! Gerade weil Verantwortungsbewußtsein ein Grundzug ihres Charakters ist, kommt ihr das sehr gelegen. Insgesamt würde sie natürlich immer auf Verantwortung bestehen, selbst wenn sie gar nicht so genau weiß, warum eigentlich und wofür, daß sie, weil sie nun einmal Vernunft hat, auch vernünftig ist, vermutlich.

Selbst und Verstand sind für sie ein Denkgegenstand unter anderen; da sie sich ihn so wenig vorgenommen hat, kann sie die beiden nicht auseinanderhalten. Man kann – und sollte – im logischen Sinne zurück denken, aber die Sache eilt nicht, oder anderes eilt mehr. Nichts muß deshalb storniert werden. Um es im Bild zu sagen: Erst muß aufgeräumt, dann kann der Schreibtisch repariert werden. Wie bei jeder anderen Angelegenheit gilt auch hier das cartesianische Eins-nach-dem-Andern, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge; denn selbstverständlich kommt das Innerste zuletzt, und wenn es einmal dran käme, wäre es nicht mehr nötig, aufgeräumt wäre. Komplexität hat mit Vielheit zu tun, das viele muß einzeln durchgegangen werden. Gelangt man vom vielen schließlich zum einen, ist auch es bloß noch eins von vielem. Womit sie nicht jede Schwierigkeit wegreden will. Das Ich ist ein ›weites Feld‹, und der Verstand hat eine seltsame Neigung, sich auszuklinken. Um so wichtiger, daß die Reihenfolge eingehalten wird. Auch die Systemfrage muß sich anstellen, tendenziell sogar ganz weit hinten.

Denken ist notwendig, aber nicht permanent erforderlich; man kann auch sagen bloß permanent. Pflichten sind so etwas wie permanentes Denken, so wie auch Denken Pflicht ist. Der Standpunkt der Pflichterfüllung ist auf seine Art autonom. Zum Ansehen in der geistigen Welt kann er wenig beitragen, aber nur Dummköpfe können tote Gedanken gegen lebendige Pflichten aufrechnen. Denken, das ist letztlich auch nur ein Wort, die Pflicht dagegen eine Brücke zur Wirklichkeit. Es gibt kein Gutes, du weißt schon. Soll ihr nie jemand nachsagen können, das Denken habe sie vom Tun abgehalten.

Von der Warte ihrer fröhlichen Pflichterfüllung schaut sie auf dein trauriges Denken. Mach’s halblang, denkt sie, weniger dramatisch. Was bist du nur für eine Karikatur!


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 124 (2004), 93–96.

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