Ilse Bindseil

Von A bis Zett – meine Welt im Porträt

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Selbstporträt mit Freunden

Häufig liest sie in den Todesanzeigen des Sonntag-Tagesspiegel den Satz von Epikur, das Wichtigste im Leben seien Freunde, und schlagartig wird ihr der Mangel ihres Lebens bewußt: sie hat keine.

In ihrem Fall ist es eher ein moralischer Mangel als ein faktischer; denn sie will gar keine. Sie hat keine Verwendung für sie. Weil sie keine Verwendung für sie hat, kann sie sie sich nicht erhalten.

Jede Menge Bedarf hat sie, aber keine Verwendung.

Wer hilft mir? fragt sie sich immer häufiger; früher hat sie sich das nie gefragt. Sie versäumt es, die Frage zu stellen, wobei, vom Warum ganz zu schweigen. Manchmal, allerdings, fragt sie sich: »Was will ich eigentlich?« Aber das ist nur Theater, gestelztes Gerede; sie schämt sich dann, allein auf dem Sofa. Am liebsten würde sie in die Küche gehen, um zu sehen, ob nicht Geschirr zu spülen ist. »Hast du nichts zu tun?« hätte ihre Großmutter gefragt. Ratlosigkeit, Probleme mit sich nahm die Oma als Ausdruck schlechter Laune, nicht als Resultat einer unglücklichen inneren Ausstattung, unlösbarer Konflikte. Melancholie war ein Beweis für schlechte Erziehung, besonders bei Mädchen. Wer melancholisch war, den hatte man versäumt, im französischen Sinn zu korrigieren, das hieß »ein paar hinten drauf«. Daß man Jungen ihre Fehler nicht abgewöhnen konnte, davon ging sie aus, sonst wären die Männer anders gewesen. Aber Mädchen waren plastisch; wenn man sie nicht formte, verformten sie sich. Trübsinn war einerseits eine Verformung, andererseits eine hinterhältige, typisch weibliche Strategie zur Abwehr von Ansprüchen. Trübe Stimmung war ein Zeichen für Mißwirtschaft im Bereich der Familie, ein Beweis für Fehlentwicklung. Melancholie war eine Fehlentwicklung, die sich als Vergeistigung ausgab.

Wenn die Enkeltochter mit ihrem Trübsinn kokettierte, dann geriet die Großmutter außer sich.

Unversehens kippt sie in die Frage »Wer hilft mir?« und fängt an, das Leitmotiv eines zeitgenössischen Chorstücks zu trällern: »Wer will mit mir ste-her-ben?« Ums Sterben geht es ihr wahrhaftig nicht. »Wer will für mich dasein?« meint sie wohl. »Wer will für mich einstehen? Wer will für mich leben?« Ihr Mann war für sie da gewesen, kein Zweifel, aber er stand nicht für sie ein; will heißen, sein Leben hatte auch ohne sie einen Sinn, ihrs nicht, mit ihm nicht und ohne ihn auch nicht. Ein anderer wäre jederzeit für sie eingestanden, wenn er gewußt hätte, wie. Seine vorbehaltlose Bereitschaft hatte ihr die Lücke so recht deutlich gemacht. Vor kurzem hatte sie sich in jemanden verguckt, der weder für sie da war noch für sie einstand, und ausgerechnet von dem fühlte sie sich beschützt, von ihm fühlte sie sich vertreten! Dabei wiederholte er unermüdlich, daß die Frau zum Mann stehen müsse. Nur dann traue er sich, ein Mann zu sein, und das wollten sie doch alle: einen Mann haben. Ein Mann, das hieß achtsam sein, wachsam sein, was immer. Es hieß aber auch sich verdammt weit vorwagen zu müssen auf das Feld der Untreue, des Rauschs, der gedankenlosen Tat, genannt Dummheit, auf jenes Gebiet, also, das die Frau nicht guthieß und auf dem er nicht recht behalten konnte. Schließlich hatte er mit den Grenzen zu tun, stand auf Posten, den ganzen Tag, und hielt Ausschau nach dem Feind. Es hieß Dinge tun, für die man sich nicht verteidigen konnte; wo die Frau alle Argumente auf ihrer Seite hatte und die man trotzdem tat und die sie mittragen mußte; ohne sich einzumischen, ohne sie gutzuheißen (dann wären sie ja nicht mehr falsch gewesen), einfach mittragen. Deutlicher gesagt, einfach aushalten, und dann konnte noch gestritten werden, was leichter war, mittragen oder aushalten oder wie das zusammengehen sollte. Aber wenn die Frau wirklich einen Mann wollte, dann mußte sie seine Dummheiten mittragen. Nicht gutheißen, um Gottes willen, nein, auch nicht nachahmen, etwa mit gleicher Münze zurückzahlen, sie war ja kein Mann! Aber mittragen.

Mittragen, das hieß, da sein, wenn er zu ihr zurückfand.

Oder es hieß da sein, während er weg war. Damit er in Ruhe weg sein konnte, weil sie ja da war. Sonst wäre es mit der Ruhe aus und vorbei gewesen.

Offenbar vertrat jener Kumpel, dem sie sich auf einer sprach- und tatenlosen Ebene nahe, von dem sie sich rätselhafter Weise vertreten fühlte, einen ähnlich absurden Anspruch wie sie, die vor lauter Anspruch niemanden vertrat.

Was Freundschaft betrifft, so fehlt es ihr an Vorbildern oder einer Prägung. Sie hatte nie gelernt, mit ihrem Mann zu streiten – den Sieg davonzutragen hätte sie in die größte Verlegenheit gestürzt –, ebensowenig, befreundet zu sein; sie weiß im Grunde nicht, wofür man Freunde braucht, wie man konkret mit ihnen umgeht, wie man sich vor ihren Übergriffen schützt und wie man sich selbst begrenzt, so daß man sich nicht über sie ergießt! In der Schule, okay, oder solange der Liebste noch eine höchst unsichere Erscheinung war, den Wechselstürmen der Objektfindung unterworfen. Sie, als Kind, hatte Freundinnen; da sie rauflustig war, in jungen Jahren auch Freunde. Ihre Mutter, mädchenhaft schön, aber jungenhaft wie sie, schwankend in allen Fragen der Subjektwerdung, hatte einen Mann. Die Tochter wußte, wenn sie erst einen Mann hatte, würde sie keine Freundinnen mehr brauchen. Vielleicht hing das ja mit ihrer schönen Mutter zusammen, die sich mit einem Mann nur abfinden konnte, wenn er zugleich ihr Freund war, ihr ›bester Kamerad‹. Nachträglich denkt sie, daß ihre Mutter von der Männlichkeit eine ähnlich absurde Vorstellung hatte wie jener seltsame Freund, zugleich aber keinerlei Eskapaden duldete und sich weigerte, auf dem Gebiet des Verzeihens auch nur die geringsten Erfahrungen zu machen. Da sie selbst kein Mann war, hinderte sie auch ihren Mann daran, einer zu sein; Männliches vergab sie grundsätzlich nicht. Dafür durfte er ihr ein und alles sein, und da er dieser Erwartung natürlich nicht genügen konnte, mußten seine Qualitäten aus allen Bereichen ›zusammengekratzt‹ werden, um die Enttäuschung über die fehlende Männlichkeit zu mildern.

Das alles reimt sie sich nachträglich zusammen, nachdem sie so ihre eigenen Erfahrungen gemacht hat; mit sich und dem Leben.

In der Obhut der Mutter lebten etliche Verwandte, die sie dankbar umsorgten. Auch dieses Verhältnis war auf seine Weise verpflichtend und natürlich alles andere als freundschaftlich. Ihre Mutter hätte es nicht aufbrechen können, ohne selbst Schaden zu nehmen. Sie rächte sich gelegentlich, indem sie erkrankte und dann mit Befriedigung feststellte, wie der Kreis sich angstvoll um sie schloß: was wurde aus der Schale, wenn der Kern fehlte! Gelegentlich tauchten im weiteren Umfeld Verwandte auf, Onkel und Tanten der Mutter, Kusinen; sie, die für sich selbst keinen andern Ausweg als Krankheit wußte, galt als exzellente Beraterin. Speziell die Kusinen umschwebte die Aura lustiger Freundschaft, leichtsinniger Freundschaftlichkeit. Bei ihrem Anblick dämmerte es der Tochter, wie ihre Mutter als junges Mädchen, ungebunden, gelebt hatte, bevor sie aus dem Mann, der sie wählte, auf Gedeih und Verderb den Mann ihres Lebens gemacht hatte.

Die Tochter hat keine Kusinen. Tuscheln hat sie nicht gelernt, kichern. Sie ist Vaters Kind. Wenn sie groß ist, wird sie den Fehler ihrer Mutter wiederholen und sich den ›Mann fürs Leben‹ nehmen. Sie wird sich jede Menge Verpflichtungen aufladen und sich in Krankheiten flüchten. Und dann wird sie mit allem brechen. Daran hätte ihre Mutter im Traum nicht gedacht, aber die Drohung des ohnmächtigen Wunsches stand immer im Raum. Das Kind wird sie sprachlos – wie anders? –, aber zielstrebig wahrmachen und die alten Verpflichtungen gegen neue eintauschen, die bisherigen Krankheiten gegen andere. Peu à peu wird sich ihr Verhältnis zur Wirklichkeit ändern.

Peu à peu wird sie in Erscheinung treten.

Hätte sie mit ihrer Mutter reden können oder die mit ihr – aber das ging nicht, hier versagte die Beratungskompetenz –, dann wäre die fällige Aufklärung in Minuten erfolgt und hätte nicht Jahrzehnte der Selbstaufklärung in Anspruch genommen. »Dein Vater, der ideale Mann?« hätte die Mutter gesagt, so wie es manchmal ihre rauhe Art war, »ach was!« Aber sie konnten nicht miteinander, ihrer, der Tochter, Idealisierungsdruck war zu groß, der Mutter Aufklärungsbereitschaft von Einmischungslust nicht zu unterscheiden, beide waren sie noch nicht alt genug. Erst als sie an sich selbst alles Nötige erfahren hatte, las sie der uralten Frau die überflüssig gewordene Aufklärung gleichsam von den Lippen ab.

Mit ihren Freundinnen, das war die totale Akzeptanz. Mit ihrem Mann, das war die totale Zuwendung. Beides beruhte im Grunde auf Verabredung oder auf Vertrag. Das schuf einen Rahmen. Vielleicht ist hier Haarspalterei am Platz, des Inhalts, daß Freundschaft das Leben, Ehe das Zusammenleben fördert; welch letzteres ein wenig abstrus klingt, man brauchte es nur zu lassen, dann brauchte man es nicht mehr zu fördern, das Leben aber war und blieb schwer! Tatsächlich war ihr die Zweierbeziehung immer unabdingbar erschienen, so daß sie sie nur mit totaler Hingabe quittieren, zugleich problematisch, so daß sie sie nur unter totaler Hingabe, der Abschottung von allen Versuchungen aushalten konnte. Sie will nicht sagen, unter totaler Selbstaufgabe; denn das hätte bedeutet, daß sie selbst etwas verkörpert hätte, und davon konnte nicht die Rede sein. Solange sie sich selbst bereitwillig aufgab, war sie nichts; also handelte es sich um Hingabe.

Kritiklosigkeit erleichterte Freundschaft, und Freundschaft erleichterte das Leben. Das Leben war vielfältig, und die Erleichterung bezog sich auf vieles. Auch in der Ehe war die Kritik suspendiert, in ihrer Ehe jedenfalls war sie durch Hingabe übertrumpft worden. Dadurch war die Ehe erträglich, aber das Leben war unerträglich geworden; oder sagen wir, es war zu einer unüberwindbaren Schwierigkeit geworden!

Vielleicht hatte Epikur ja im Auge gehabt: daß Freundschaft nicht nur zum Erhalt der Freundschaft taugte, sie stützte das Leben. Hingabe dagegen erhielt die Ehe und zerstörte das Leben; sie bedeutete mehr auszugeben, als man besaß. Vielleicht hatte Epikur gemeint, daß Freundschaft, was immer sie selbst verbrauchen mochte, dem Leben etwas hinzufügte, wogegen Hingabe, in der Ehe, von ihm zehrte.

Wo immer es zu Nähe kommt, wird ein gehöriger Teil des Gewinns dafür verbraucht, sie auszuhalten. Er wird gewissermaßen abgeschöpft, das ist nun mal so. Man darf die Sache nicht zu schematisch betrachten, so als würde die geringe Nähe in der Freundschaft auch geringere ›Zuwendungskosten‹ verlangen, die größere dagegen in der Ehe entsprechend größere. Dann nämlich würde Freundschaft wenig bringen und wenig verlangen, Ehe dagegen ergäbe in beiden Spalten der Buchhaltung entsprechend mehr, also genauso viel oder wenig. In Wahrheit sind Freundschaft und Ehe nicht zu vergleichen. Das Verhältnis der Freundschaft zum Leben ist von ruhiger Linearität; letzteres zu begleiten ist ihr Wesen. Der Ehe dagegen liegt eine Umkehrung und, wie in diesem Fall nicht anders zu denken, eine Dynamisierung zugrunde. Das Ziel des Lebens ist die Ehe; muß sie sein, sonst kann man sie nicht aushalten.

Epikur hat seinen Satz sicher nicht in diesem Sinn gemeint. Zwar ist ein Leben ohne Freunde nichts und Freundschaft der Sinn des Lebens; aber dies im begleitenden, eben im linearen Sinn von »Das Leben ist ein ruhiger Fluß« oder »Die Freundschaft ist ein ruhiger Fluß«. Eins fürs andere ist ein ruhiger Fluß. Mögen auch die Zeiten bewegt sein, eins ist fürs andere; ausgeschlossen, daß es sich an die Stelle des jeweils andern setzt. Die Ehe dagegen – jedenfalls in ihrer eigenen absurden Auffassung, die die Tochter von der Mutter übernommen hat und die vermutlich eines jener grauenhaften Erbstücke des 19.Jahrhunderts, eine rechte 19.-Jh.-Auffassung ist – setzt sich an die Stelle des Lebens. Dieses wiederum darf sich im besten Fall an die Stelle der Freundschaft setzen und die Ehe begleiten. Aber dabei spürt es einen Sog, und es ist ihm, als sollte es verschlungen werden.

Sie erinnert sich sehr gut an ihre Kinder- und Jugendfreundschaften, weil diese durch keine erwachsenen Freundschaften verdrängt wurden; da waren keine mehr. Sie erinnert sich auch sehr gut ihrer Verliebtheiten, weil sie immer auf die gleiche Art geliebt hat, blindwütig und besessen, die Vollkommenheit des Geliebten simulierend durch die Vollkommenheit ihrer Liebe.

Sie erinnert sich, daß ihre Freundschaft von einer gehörigen Portion Gleichgültigkeit begleitet war gegenüber den Mängeln der Freundin, daß sie sie eher gleichgültig als geduldig ertrug, während sie für die eigenen Fehler die Geduld der Freundin in Anspruch nahm; hier mit Gleichgültigkeit zu rechnen wäre ihr nie eingefallen. Die Geduld der anderen Seite förderte das Gefühl der Freundschaft, die eigene Gleichgültigkeit sicherte das Bewußtsein der Freiheit. Als Feind der Freundschaft galt nicht etwa gegenseitige Unduldsamkeit, die kam in ihren Freundschaften nicht vor, sondern einesteils Liebe, die jederzeit von außen einbrechen konnte, und andernteils Konkurrenz, auch sie ein äußerer Feind. In der Abwesenheit anderer konnte man sich gefahrlos unterordnen, man durfte die eigenen Interessen hintanstellen, statt zu kämpfen sich bemuttern lassen, dienen statt befehlen. Wenn man unter sich war, war beides gleich gut, und keines war besser. Überhaupt war das Leben zu zweit nicht gefährlich; nicht, weil es nicht echt war, allenfalls in dem Sinn nicht echt, daß es zugleich Modell und Beispiel, Projekt und Tatsache, Anweisung und Ausführung war. Liebe bedrohte die Freundschaft entweder materiell oder ideell; ersteres indem sie sich an ihre Stelle setzte, letzteres, insofern sie Konkurrenz ins Spiel brachte. Davon abgesehen – und das war natürlich nur im Idealfall möglich – waren Liebe und Freundschaft gegeneinander neutral, wie man sagt: zwei verschiedene Paar Schuhe. Konkurrenz zerstörte dagegen die Freundschaft, sie zerstörte den geschützten Raum, das geschützte Milieu, die über alles geliebte Traumwelt. Sie und die Freundschaft waren Antagonisten.

Besser, man war befreundet und hatte sonst nichts miteinander zu tun.

Akzeptanz in der Freundschaft war gleichbedeutend mit der Ausklammerung der Konkurrenz, nicht mehr und nicht weniger. Sie war das Leben selbst, nur ohne Konkurrenz.

Vermutlich hatte Epikur genau das gemeint, als er sagte, daß Freunde das Wichtigste im Leben sind. Am Leben hatten sie den größten oder den wichtigsten Anteil, sonst war es nämlich gleichbedeutend mit Konkurrenz, dem Kampf aller gegen aller. Freunde, nach Epikur, waren wichtig, damit das Leben Leben blieb. Also waren sie schon enorm wichtig.

Ehe war etwas anderes als Leben. Sie war durchaus etwas eigenes.

Was nun die Liebe betraf, so war Freundschaft weder die Vorstufe davon noch ein Ersatz dafür. Vor allem war sie nicht der Ersatz fürs Leben, so wie die Ehe ein Ersatz fürs Leben oder Leben eine Vorstufe der Ehe war. Liebe war wankelmütig, Freundschaft war stabil. Sie überdauerte das Leben, sie übertrumpfte es nicht. Äußerstenfalls parodierte sie es. (Und nur das kann man parodieren, sagt der Weise, worauf man à fond verzichtet hat.)

Mit Freunden konnte man das Leben kommentieren, man konnte es beweinen, man konnte es beleuchten. Man konnte es parodieren, indem man gemeinschaftlich Erbswurstsuppe mit Wackelpudding löffelte, obwohl man bereits vor undenklichen Zeiten mousse au chocolat und Avocadocreme zu genießen gelernt hatte, und über ein Melodram im Fernsehen heulte. Die Freundschaft machte dem Leben keine Konkurrenz; sie stellte den Fortschritt nicht in Frage.

Vermutlich hatte Epikur genau das gemeint.

Aber sie will hier nicht ihren theoretischen Reichtum ausbreiten, sondern ihre soziale Armseligkeit deutlich machen, nicht das Leistungsvermögen ihres Kopfes bilanzieren, sondern das Unvermögen ihres Herzens.

Reichlich spät fällt ihr das ein. Obwohl, ihre Freundin Jutta sagt, daß, wenn man einen Mangel bemerkt, er nicht selten gerade an sein natürliches Ende gelangt ist; daß man ihn bemerkt, wäre also nur ein Symptom seines Untergangs. Und in dem Fall wäre sie ja reichlich entschuldigt.

Lieben kann sie enorm, aber was Freundschaft ist, weiß sie bis heute nicht. Wenn sie dagegen sagen soll, was ihr den Gedanken daran am meisten verleidet, dann fällt ihr vor allem der Mangel ein, der Bedarf. »Freunde braucht man«, heißt es (aber bestimmt nicht bei Epikur; der sagt: »Freunde sind …«) Die vom Brauchen reden, haben sich mit dem beschädigten Leben abgefunden. Sie dagegen findet sich grundsätzlich nicht ab; geradezu nichtswürdig findet sie das Brauchen nicht von etwas, sondern von dessen Ersatz! »Echte Freunde sind da, wenn man sie braucht«, heißt es. »Wenn man sie braucht«, heißt, wenn etwas fehlt. Es heißt nicht, wenn sie fehlen, sondern wenn etwas anderes fehlt, dann braucht man sie!

Fehlte dies andere nicht, Gesundheit, Liebe, Glück, dann bräuchte man sie nicht.

Ihr graut es vor den Techniken des Überlebens. Nie wird sie sich mit Freunden abgeben, die sie braucht; obwohl das ganz schön hochnäsig klingt, ganz schön vollmundig.

Nie würde sie sich aus solchem Grund als Freundin zur Verfügung stellen; als Helferin meinetwegen, aber nicht als Freundin; obwohl diese Haltung auch etwas ganz und gar Unfreundschaftliches, Rechthaberisches und Besserwisserisches, etwas Dogmatisches hat, so als entspränge sie mehr einer allgemeinen Unfähigkeit zur Freundschaft als einer besonders reinen Auffassung von ihr.

Freunde sind, sagt sie sich, oder sie sind nicht. Aber grenzt ein Leben ohne Freunde nicht selbst an das Nichts?

Nein, beharrt sie stur, ein Leben ohne Freunde ist einfach ein anderes Thema.

Hier würde sie sich von Epikur abgrenzen, von dem man sich allerdings nicht gefahrlos abgrenzen kann, hat er doch gegen die Gefahr die Freundschaft gesetzt, und wenn sie sich darüber hinwegsetzt, ist das Leben womöglich gefährdet.

Sie hat sich ganz schön weit ins Nichts vorgewagt.

Das meiste ist pure Abgrenzungswut. Es ist ja nicht nur so, daß ein Leben ohne Freunde gefährlich ist – wie ihre Freundin Chrissie sagt: es fehlt das Netz. Auch Freunde können gefährlich sein und sind es in der Regel. Sie verkörpern das falsche Leben, und so nahe, wie sie einem kommen, geht von ihnen Ansteckung aus. (Ja, ja, sie weiß, die Deutlichkeit kommt nicht von der Nähe, sondern von der Abgrenzung, und die Ansteckungsgefahr ist nur so groß wie die Affinität. Trotzdem will sie es einmal gesagt haben.)

Freunde plädieren für das Arrangement. Sie plädieren für die Gemütlichkeit – allein schon durch ihre Unvollkommenheit sind sie ein Plädoyer für die Duldsamkeit; durch ihre Existenz sind sie ein Plädoyer für Gemütlichkeit. Triebgehemmt, wie die Freundschaft nun einmal ist, zieht sie alle Taten ins Gerede und ersetzt durch Worte, was nur als Ereignis Sinn gäbe; im besten Fall ersetzt sie es durch das Ereignis der Freundschaft.

Einmal, sie erinnert sich, war das Wiedersehen mit der besten Freundin so prekär, der Wunsch nach Vereinigung oder vielmehr der nach Wiederherstellung – der uneigennützigen Jugend –so groß gewesen und die Hemmung entsprechend immens, daß sie der Freundin nur noch sozusagen mit gesträubten Nackenhaaren begegnen konnte; sie wären sonst eine in der andern verschwunden. Dabei kannte sie kein weniger sexuelles Verhältnis als ausgerechnet das zu ihr. Noch heute überläuft es sie, wenn sie an den Schauder von damals denkt. Haben sie damals etwas verpaßt, als die betuchten Eltern die beiden blassen Mädchen nach dem Abitur ins Hotel über dem Rhein schickten? Wo es so schön hätte sein können und so frühlingsgrau war, irgendwie nicht echt und ohne Perspektive. Wo sie gemeinsam traurig waren und dadurch schon wie getrennt; nur in dem Moment wirklich, als sie auf der Toilette den Ring der fremden Frau fanden und ihr mit der Rückgabe eine Freude machen konnten.

Wäre da eine Chance gewesen? Aber sie wüßte nicht, welche.

Freunde plappern im Kinosaal, als wären sie allein auf der Welt, eben zu zweit. Ob es ein Mäuerchen oder die Stufe vor dem Hauseingang ist: Freunde verwandeln den Außen- in einen Innenraum, alles wird zum Treffpunkt, zum verabredeten Ort. Unanimité herrscht, wo sich sonst Beziehungslosigkeit oder Bestimmungslosigkeit breitmachen.

Unter erwachsenen Freunden erscheint ihr diese Übereinstimmung falsch und verlogen. Nicht weil sie als einzige erwachsen geworden wäre, wie sie gern behauptet, im Gegenteil. Sie glaubt, erwachsen sein heißt die Ziele der Kindheit verwirklichen; das heißt doch nichts anderes, als daß sie immer noch wie ein Kind denkt. Dächte sie wie ein Erwachsener – peu à peu kommt sie darauf –, sie würde die Anforderungen des Erwachsenseins begreifen. Die Anforderung des Erwachsenseins ist die Wirklichkeit, sonst gibt es keine Anforderung. Die Wirklichkeit des Erwachsenseins ist die Vergänglichkeit. Zuzugeben, daß nicht nur die eigene Vergänglichkeit ein Skandal, sondern die Vergänglichkeit des andern genauso ein Skandal wie die eigene ist, daß dieser Skandal so groß ist, daß er nur gemeinsam gelebt, und so absolut gleichartig, daß er durchaus oder ohne weiteres gemeinsam erlebt werden kann, wäre der Inhalt der erwachsenen Freundschaft.

Nicht, wer will für mich, sondern wer will mit mir ste-her-ben? wäre demnach das Programm.

Aber um wirklich Bescheid zu wissen, Albernes von Wichtigem unterscheiden zu können, muß sie selbst noch erwachsener werden. Den einen oder andern winzigen Fortschritt hat sie schon gemacht. Als sie kürzlich, von einer Zahnoperation grotesk entstellt, mit hochgeklapptem Rollkragen wie immer einen Kaffee to go kaufte und den ihr wohlbekannten Stammgästen hinter schützend vorgehaltener Hand drohte, bei Gelächter oder Spott am nächsten Tag mit Strumpfmaske zu erscheinen, wie sagte da ein habitué? »Wir werden Sie trotzdem erkennen.«

Sie hat die Bemerkung zu würdigen gewußt.

Im Grunde liebt sie ja ihr Leben, wie es ist, auch wenn sie nichts erlebt und ihre Freunde mittlerweile danach beurteilt, ob sie ihr etwas erzählen können oder nicht. Es ist eben ihr Leben, sa vie à elle, und je schwächer sie in der Selbstwahrnehmung ist, desto entschlossener muß sie es leben. Sie muß es allein leben, um es wahrnehmen zu können. Sie muß Niederlagen kassieren, auch das fördert die Deutlichkeit.

Aber manchmal malt sie sich doch einen Freund aus. Er wüßte alles von ihr und wäre trotzdem ihr Freund.

Das wäre nicht nur ein Trost, es würde auch helfen.

Auf seine Art wäre es eine Tatsache.


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Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt21.html.
Abdruck in: Ästhetik & Kommunikation 138 (2007), 51–55.

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