Apropos Mathilde

Zum Inhaltsverzeichnis


I. Teil

1

Zuerst schrieb sie bunte Ansichtskarten. »Sans toi, j’ai froid.« Ein Eisbär fror in seinem Fell. Nur ein dürftiger Schal war um seinen dicken Hals geknotet. Hätte ich genauer hingesehen, hätte ich gemerkt, daß er bereits Halsschmerzen hatte. »C’est loin, chez toi.« Es war weit bis zu mir, potztausend! Ich war allein, aber nach mir maß jemand die Entfernung. Da ich kaum Französisch konnte, schoben sich mir die Sätze direkt unter die Haut. Beinahe hätte ich mich selbst vermißt. »… et ch’uis fauché.« Das hätte mich warnen müssen. Aber ich war zu faul, im Langenscheidt nachzuschlagen.

Dann kam sie selbst, einen Schlafsack unter dem Arm. Nebenbei, sie hatte nicht vor, darin zu schlafen, sondern pflegte ihn dem zu borgen, der ihr sein Bett überließ, nach dem Motto, wenn du mal ein paar Tage in einem Bett schlafen willst, und für die unvermeidliche Gitarre über dem Rücken galt in etwa das gleiche. Ihre Nase war gerötet, ihre Augen blinkten wäßrig, und der Schal war kaum in der Lage, was in ihrem Hals rasselte, unter Kontrolle zu halten. Kurz, sie war stark erkältet, und ich konnte nicht umhin, ihr mein Bett anzubieten, sah sie doch aus, als hätte sie tagelang auf europäischen Bahnhöfen gefroren. Komisch, so weit war Frankreich nun auch wieder nicht.

Sie richtete sich häuslich bei mir ein; daß ich das zuließ, war ein Fehler, aber andersherum wäre es auch nicht richtig gewesen, denn niemand hätte mir den Willkürakt verziehen, ich mir am wenigsten. (Vor nichts hatte ich mehr Angst als vor schlecht begründeten Handlungen, da mußte ich gleich an Gott denken, die berühmte Schöpfung aus dem Nichts). Dabei war es nicht etwa so, daß sie die kostbare Junggesellenatmosphäre zerstörte. Sie staubsaugte nicht, stellte die Waschmaschine nicht, ohne mich zu fragen, an und sortierte die Wäsche auch nicht falsch. Das Problem lag woanders.

Ich hatte mir eine Hose aus Nubuk-Leder gekauft, die war nicht nur etwas teurer, sondern sie bedeutete mir etwas. Sie war pflegeleicht und schmutzabweisend. Letzteres galt auch für Frauen, obwohl ich bezweifelte, daß Französinnen die deutsche Kleidersprache verstanden, meine Französin speziell. Von Anfang an hatte sie ein begehrliches Auge auf die Hose geworfen. Sie schreckte sie nicht ab. Im Gegenteil, sie hätte auch so eine Hose gewollt (am liebsten meine). Und ihr hätte sie ebensogut gestanden wie mir.

Physisch war sie nicht besonders geglückt. (Womit ich nicht behaupten will, daß ich es auch nicht bin, wegen der Hose.) Ihr Körper wies alles auf, was der europäischen Frau zur Schande gereicht. Er war mager, weil es zur Fülle nicht gereicht hatte, weich, weil auch das bißchen, was er aufwies, noch zuviel war, unkoordiniert, weil der Geist sich mit der mühsamen Aufgabe, den Körper zu durchdringen, offensichtlich überfordert hatte, so daß letzterer unbalanciert wirkte, gar nicht mal unbearbeitet und stumpf, eher renitent und irgendwie entgleist.

Wie jedes echte Lebewesen kümmerte sie sich nicht darum und entschuldigte sich nicht dafür. Sie war müde, hungrig, geil. Sie machte Klimmzüge, um an das ihre zu kommen. Dabei überlegte sie nicht, ob der unbeirrte Kampf um die Bedürfnisbefriedigung sie vielleicht in ein unvorteilhaftes Licht setzte. Wer hatte Lust, ihr sein Bett anzubieten, wenn sie schon darin schlief? Aber Imagepflege geht nicht über alles, und Liebe ist etwas anderes als Schönheit, jedenfalls wenn man nicht schön ist. Fragt sich bloß, warum ich trotzdem Probleme mit ihr hatte. Weder war ich selbst so schön, daß ich ihre Häßlichkeit nicht ertrug, noch mein Haushalt besonders kultiviert, so daß ihre Anwesenheit einem Stilbruch gleichkam. Aber sie strengte sich nicht an, das war es, was mich kränkte. Sie versuchte es nicht einmal. Dabei wollte sie natürlich genauso für voll genommen werden wie jemand, der sich Mühe gab (und es damit anderen ermöglichte, sich um ihn zu bemühen).

Später, als ich dank meiner unermüdlich köchelnden Wut bereits zu einem gewissen Standard im Erklären gelangt war, korrigierte ich mich. Es war ja keineswegs so, daß sie vegetierte, während ich mich entwarf. Um das glauben zu können, hätte ich gewisse Situationen auslöschen müssen, in denen es eindeutig umgekehrt war: sie lebte ihr (oder eigentlich mein) Leben, ich vegetierte. Wenn ich daran dachte, haßte ich sie, weil sie mit ihrer animalischen Natur offenbar dasselbe Lebensprojekt verfolgte wie ich. Ach, nichts ist anstrengender und schafft größere Verbitterung, als wenn man Unterschiede behauptet, wo keine sind! (Aber das ist bereits aus dem Nähkästchen geplaudert.)

Manchmal sagte ich zu ihr:

Du warst eine nettere Gastgeberin, damals, als ich bei dir untergeschlüpft bin. Ich bin ein schlechter Gastgeber, ich weiß.

Ein boche, sagte sie verächtlich.

Ja, ein Boche, sagte ich.

Sie konnte unmöglich bei einem Boche bleiben wollen. Umgekehrt konnte ich mich unmöglich dazu bekennen, ein Boche zu sein, einfach so. Gespannt wartete ich darauf, daß sie ihre Tasche packte und ins schöne Frankreich, la douce France, zurückkehrte. Geduldig wartete sie, daß ich mich an sie gewöhnte.

2

Sie hieß Mathilde. Ganz schön altmodisch – und ganz schön gehässig von den Eltern, ihr den abgenutzten Namen der Heldin aus Maupassants Novelle Der Schmuck zu geben. Es waren kleinbürgerliche Kommunisten aus der Bretagne, die sonntags in die Messe gingen und ihre Kinder mit Ohrfeigen erzogen. Gott sei Dank waren sie tot.

Von Anfang an, fand ich, hatte Mathilde keine Chance gehabt, trotz Kommunismus und Apfelkuchen.

Sie haßte ihre Eltern, aber sie war stolz auf ihre lupenreine Biographie: Ich als Tochter eines Kommunisten (das ging gegen alles, was links war in Deutschland), ich als Bretonin (das ging gegen die Franzosen). Daß ihre Mutter ebenfalls kommunistisch gewählt hatte, galt ihr als Beweis für deren unterbliebene Emanzipation. (Meine Mutter? Ah, mon Dieu!) Als Angehörige einer Minderheit war sie gegen Zentralismus, jegliches pompöse So-tun-als-ob immun, nur nicht gegen das Als-ob der Rebellion. Als abtrünnige Katholikin hatte sie ihre moralische Pflicht erfüllt, und dazu war es nicht einmal nötig gewesen, aus der Kirche auszutreten (das taten nur Boches). Kurz, sie stand immer auf der richtigen Seite. Nur was sie in Deutschland wollte, war mir ein Rätsel. Vielleicht den Résistance-Wahn ihres Vaters noch einmal so richtig auskosten, ehe es dafür zu spät war.

Sie war mir in allem voraus, aber ich durchschaute sie (was nur eine andere Formulierung für denselben Sachverhalt ist, weiß Gott). Einmal passierte es mir, daß ich am Küchentisch saß und gedankenlos die Ansichtskarten betrachtete, die ich gegen die leeren Marmeladengläser oben auf der Anrichte gelehnt hatte. Sie winkten mir zu, und ich holte sie herunter und sah sie mir eine nach der andern an, besonders die französischen. Ich wage es kaum zu gestehen, es erfaßte mich eine solche Sehnsucht nach der Schreiberin dieser Karten, zugleich eine solche Sehnsucht nach mir! Sie kam in dem Augenblick herein und mit ihr ein Schwall frischer Luft von draußen. Ihr Gesicht war so blank wie bei manchen Kindern rabiater Mütter, nicht bloß gewaschen, sondern gebürstet, mit dem Bimsstein abgerubbelt: nackt. Mit einem Blick hatte sie die Situation überschaut. Wir verharrten eine Weile, sie in den Anblick meines Inneren, ich in den ihres Äußeren vertieft. Sie sah, daß ich mich mit ihr beschäftigte, und was hätte sie mehr gewollt? Aber sie triumphierte nicht, lächelte nicht einmal. Etwas lief falsch, das merkte sie sofort. Irritiert musterte sie mich. Ich warf ihr etwas vor, aber sie wußte nicht, was. Nur mühsam bezwang sie sich, daß sie nicht an sich heruntersah oder sich umblickte. Auf etwas mußte sich meine Abneigung, die sie mit Händen greifen konnte, ja beziehen lassen. Wie hätte sie zugeben sollen, daß ich ihr aus ihrer ganzen Person einen Strick drehte, daß sie mir als Mensch, mit Haut und Haarfarbe, im Wege war?

Sie schüttelte den Anflug von Selbstzweifel ab.

Ich war mit Gabriel aus, sagte sie (Ga-bri-öl, intonierte sie, als wäre er etwas Besseres als ich oder würde durch den französischen Kontakt geadelt). Dabei warf sie mir einen herausfordernden Blick zu, als wollte sie sagen: Deine Freunde wissen mich mehr zu schätzen als du.

Ach ja, sagte ich gleichgültig, wo seid ihr denn gewesen? War das Essen gut?

3

Ich konnte mir nicht vorstellen, daß mein Freund Gabriel mit ihr besser zurechtkam als ich. Aber da war das Französische. Es machte, daß ich zum Glückspilz erklärt wurde, daß mir Don-Juan-Qualitäten beigelegt wurden, nur weil ich eine Französin beherbergte und sie nicht gleich in der ersten Woche das Quartier wechselte (auch später keine Miene machte auszuziehen), daß ich scharenweise Besucher empfing, die auf ihren Pagenkopf einen Blick werfen und dem mit Rattenfänger-Eigenschaften ausgestatteten Ö-Laut lauschen wollten. (A-bön Sie gut ge-schla-fön?) Als die Tage ins Land gingen und kein Beweis für die unvermeidliche Beziehung zwischen ihr und mir sich ergeben wollte, gewissermaßen der schwangere Bauch unserer Liebe, als kein Blick, keine Geste darauf hindeutete, daß die erotische Spannung zwischen uns stieg oder, fiebrig erwartet, sich bereits entladen hatte, differenzierte sich nicht nur das Feld der Verehrer, auch der Gegensatz zwischen ihnen und mir wurde geringer. Was Mathilde anging, so begriffen sie, hatten alle ihre Chance, ja vielleicht sie eine größere als ich; denn unverkennbar strahlte sie, wenn Bekannte aufkreuzten oder sie am Arm von einem von ihnen das Haus verließ – auf damenhafte Weise gezähmt, mit stolperndem Lachen das Klacken ihrer Absätze imitierend, mädchenhaft ausgelassen –, so als wäre sie der nervigen Mama, dem mürrischen Vater entkommen, der Vater oder die Mutter aber war ich. Andererseits war es heikel, sie wieder bei mir abzuliefern, spätabends oder nachts, war doch nichts Wesentliches passiert (so reimte ich mir die Dinge zusammen), aber Entscheidendes angepeilt worden. Was, konnte man sich fragen, wenn ich zum Nutznießer des aufgestauten Triebs wurde? Daß ich eine Abstaubernatur hatte, sollte ich vor Jahren schon bewiesen haben, als ich meiner Frau nähertrat, das heißt, sie von einem meiner besten Freunde ›übernahm‹. (Wie wir unsere Ehe gestalteten, war ja dann wohl unsere Sache gewesen.)

Ganz gleich auch, wie der Abend verlief, an seinem Ausgang war immer ich schuld. Wer konnte beurteilen, ob die Unterhaltung wirklich banal, die Körpersprache unerotisch, der emotionale Austausch unzureichend gewesen war, wenn ich bei der Heimkehr gewissermaßen hinter der Gardine wartete? Und dabei ging es noch nicht einmal um die Tatsache, daß ich Mathilde mein Bett abgetreten und, ihren Schlafsack mittlerweile bloß noch als Decke benutzend, auf zwei Polstermatratzen Zuflucht gefunden hatte, dem ausrangierten Sofa meiner Studentenjahre. Sie hätten ja auch ›zu ihm‹ gehen können, wer immer das jeweils war. Für Mathilde hätte ich trotzdem hinter der Gardine gestanden; sie ging davon aus, daß ich auf sie wartete (nicht sie vermißte).

Ein Urteil über die erotischen Chancen eines solchen Abends wurde durch ihr Benehmen erschwert, das nicht anders denn als vielversprechend bezeichnet werden konnte. Natürlich war die Unterhaltung niemals banal, sie war ja Französin. Beim körperlichen Ausdruck mußte es meiner Ansicht nach hapern, aber da sprang die Sprache in die Bresche, flötete es doch durch das Restaurant, daß es eine Art hatte und die Gäste sich umdrehten, den Glücklichen ausfindig zu machen, der den Abend mit einer Französin verbrachte. Und natürlich hagelte es bises zum Abschied, bisou, hingehaucht rechts, bisou, hingehaucht links, daß sich die Barthaare aufstellten und ein Lüftchen die erhitzten Wangen kühlte. Wie sollte sich angesichts einer so betörenden Sachlage der Stand der erotischen Dinge ermitteln lassen, zumal ihre Lippen immer kühl blieben? Logisch, daß ich schuld war, wenn es nicht vorwärts ging. Ja, wenn ich nicht gewesen wäre. (Aber dann wäre sie auch nicht gewesen!) Wenn ich Mathilde nicht für mich beansprucht, mit welch üblen psychologischen Tricks auch immer an mich gekettet, von denen, die ihr wohlwollten, ferngehalten hätte! Freilich, wer hätte sie dann gekriegt? Allein schon aus der Unbeantwortbarkeit dieser Frage hätte sich folgern lassen, daß das Ganze nicht so einfach war. Ich hatte nicht schuld, ich holte nur die Kastanien aus dem Feuer. Wer hatte denn ständig mit Mathilde zu tun? Wer spürte die Folgen am eigenen Leib? Seit sie bei mir wohnte, badete ich in Selbstmitleid. Wahrhaftig, Ohnmacht und Impotenz waren zu meinem Lebensgefühl geworden. Betrübt schielte ich zu meiner Lederhose hinüber. Wie hatte ich jemals geglaubt, daß sie den Feindkontakt verhindern würde. Feindkontakt! Früher hätte es mich bei diesem Ausdruck gegraust. Ich war schon ganz heruntergekommen, und ich träumte bereits auf französisch. Im Traum sah ich eine riesige Burg aus Pappmaché. S’écrouler, träumte ich: beim ersten Anrennen des Gegners stürzten die Mauern zusammen.

4

Bei ihrer Ankunft hatte Mathilde so gut wie kein Geld gehabt. Warum auch. Sie kam ja nur für ein paar Tage. Hatte sie gefragt, ob ich Geld hatte, als sie mich aufnahm?

Lumpen ließ sie sich dennoch nicht.

Ich lade dich ein, erklärte sie an einem der ersten Wochenenden. Was nicht hieß, daß es ins Restaurant ging, sondern sie zauberte ein Menu, drei Gänge, deren Herstellung, wie sie betonte, praktisch nichts gekostet hatte: Avocado ohne was, Hühnchen auf Vollreis und natürlich bretonischer Apfelkuchen. Die Unkosten (aber es gab ja keine) trug sie selbst, wenn auch eine dunkle Stelle blieb. Ich hatte sie bis dahin nie etwas bezahlen sehen. Sie kam in bewundernswerter Weise ohne den größten Teil dessen aus, was Geld kostete, Zeitung, Kino, Café, es sei denn, sie war eingeladen. Wie war sie an das Geld für das Hühnchen gekommen?

Während sie den Löffel schwang – ich mußte ihr beim Kochen zusehen, das war Teil der Einladung und brachte den Abend voran –, unterhielt sie mich mit den finanziellen Aspekten des Mahls. Es war gar nichts dabei, also handelte es sich um ein Wunder, und als solches wollte sie es gewürdigt sehen. Die Avocado hatte genau die richtige Reife, darum hatte sie sie praktisch umsonst bekommen, kurz vor Marktschluß. Der Händler konnte sie ja nicht über das Wochenende aufheben, und die Deutschen kauften sie in diesem Stadium nicht mehr. Sie aß Avocado gewöhnlich mit Zitrone, das machte nicht dick, gelegentlich auch nur mit Salz so wie heute (offensichtlich hatte sie die Zitrone gespart). Den Naturreis hatte sie in meiner Speisekammer gefunden. Sie hatte sich gleich gedacht, daß sie mir einen Gefallen tat, wenn sie ihn verbrauchte. Ich sah nicht aus, als ob ich damit umgehen konnte, und wer wußte, wie alt er schon war (und wer ihn gekauft hatte). Genauso war es mit dem Dessert. Mußte es sein, daß die Äpfel, die mir meine alte Mutter ins Geburtstagspaket getan hatte, vergammelten? Sie waren bestimmt nicht gespritzt. (Und ob!) Also waren sie kostbar. Mathilde hatte ihr Duft inspiriert. Was sollte sie zum Nachtisch Herrliches bereiten? (Préparer, ich dachte an alles mögliche, sogar an einen Giftpfeil, dabei ging es bloß um die gewöhnliche Zubereitung in der Küche.) Bretonischen Apfelkuchen natürlich, ein Hauch von einem Kuchen, den man zu zweit nach einem sättigenden Mahl verdrücken konnte. Die Äpfel waren verschrumpelt, sie hatten Duft und Form von alten Quitten angenommen. Mathilde hatte sich ihrer erbarmt, das Schälen machte Mühe, aber was tat man nicht, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Was das Huhn betraf, nun ja – sie sparte, während sie es kunstgerecht anbriet, nicht mit Vorschlägen, wie man aus dem, was sich sonst noch in der Kammer fand, köstliche Mahlzeiten zauberte, für praktisch umsonst. Es hatte keinen verdächtigen Reifegrad, war vielmehr frisch, zart und so ausgiebig, daß man nachnehmen konnte, aber kein ganzes. Ich lernte, daß es beim Huhn keine besseren und schlechteren Stücke gab. Auf bretonische Art in der Kasserolle geschmort, waren sie alle gleichermaßen herrlich, ja die billigeren, ihrer Fett und Geschmackseigenschaften wegen, unverzichtbarer als das trockene Brustfleisch. Ich erfuhr, daß es eine barbarische Sitte war, typisch boche, den Hühnern die Beine auszurupfen (lebendig?) und den Rest zu Hundefutter zu verarbeiten. Kannte ich ein Tier, daß von seiner Beute nur die Beine fraß? Im Schmortopf meiner Großmutter, den Mathilde mit einem Freudenschrei entdeckt und von Spinnweben und alten Fettkrusten befreit hatte (dieser Schmortopf, behauptete sie, hatte sie erst auf die Idee mit dem Hühnchen gebracht), befand sich ausgesprochen viel von dem, was die Deutschen für gewöhnlich nicht aßen, was aber das Beste war: Haut, Flügel, Gekröse. Da ich allenfalls ein tiefgefrorenes Hühnerbein kaufte, konnte ich das gar nicht beurteilen. Was das Huhn gekostet hatte und womit es bezahlt worden war, blieb letztlich im dunkeln.

Schmeckt’s? fragte Mathilde. Ich fand, daß es so schmeckte, wie wenn man nach langer Vertrautheit mit chinesischer Küche plötzlich südchinesisch aß.

Herrlich, sagte ich.

Ansonsten wurde beim Essen nicht über das Essen geredet. Das war ein eiserner Grundsatz ihrer Großmutter, und Mathilde hielt sich daran. Während sie die Gänge einen nach dem andern ohne Verzögerung servierte, unterhielt sie mich. Das gehörte ebenfalls zu einer Einladung, wobei aber der Gastgeber den Gast mit persönlichen Sorgen tunlichst verschonte. Für ihn zu kochen rechtfertigte ja nicht, ihn zu mißbrauchen, allenfalls die eigenen Fähigkeiten zur Schau zu stellen, die aber bewährten sich am Allgemeinen. Mathilde brauchte keine Themen zu suchen. Da sie von Frankreich nach Deutschland hinübergewechselt war und in der glücklichen Situation zu vergleichen, gewann sie auch dem geringfügigsten Ereignis eine prinzipielle Note ab. Dieses Ereignis war – getreu der Maxime, daß man von einer persönlichen Erfahrung ausgehen sollte, um sie in einem zweiten Schritt zu verallgemeinern – in der Regel selbst erlebt, und hier konnte sich der Zuhörer schon auf einiges gefaßt machen. Denn Mathilde hatte ein Talent, Abenteuer anzuziehen, und schöpfte bereits nach kürzestem Deutschlandaufenthalt aus einem beträchtlichen Schatz. Freilich war alles sonderbar verfremdet. Sie redete von hier, aber es klang, als hätte sie es in Paris erlebt. Lügen war nicht ihre Sache, und sie erfand wohl auch nichts dazu, arbeitete höchstens das Relief heraus, übertrieb auch ein bißchen. Aber natürlich hätte ich als deutscher Gast viel lieber etwas über Frankreich gehört, und außerdem fühlte ich mich seltsam enteignet. War das meine Straße? Hatte das wirklich mein Nachbar gesagt? Wie konnte man sich, selbst als poetischer Mensch, in einer fremden Umgebung – immerhin der Lebenswelt eines andern – schon nach zwei, drei Wochen derart zu Hause fühlen, daß man im Ton einer Kindheitserinnerung von ihr erzählte? Wenn es ans Verallgemeinern ging, geschah es wie im Rahmen eines bilateralen Vertrags zwischen Frankreich und Deutschland, wobei die jeweilige Tradition und Geschichte, der Nationalcharakter, die Sitten und Gebräuche wechselweise in Erscheinung traten. Die Aussagen waren aus grobem Holz, klar, einfach und wahr, ihre Rhetorik lateinisch, jeder Satz ein Gegensatz und bereits der erste ein Resümee, der zweite und dritte nicht weniger. Für mich waren sie wie mit dem Vorschlaghammer gearbeitet. Sie trafen, als hätte es Hiebe gesetzt. Auf der Ebene der Episode, des persönlichen Erlebnisses war dagegen alles so genial ineinander verwoben, daß ich gegen meinen Willen fasziniert war, süchtig nach mehr.

Mathilde ließ sich nicht bitten. Tatsächlich konnte sie nicht mit der U-Bahn fahren, ohne wenigstens drei aufwühlende Begegnungen zu haben, darunter mindestens eine, die ihr persönliches Eingreifen erforderte, das stets beispielhaft, gelegentlich mutig und immer veröffentlichungsreif war und in einem Fall auch in die Zeitung kam, ich sage nicht, welche. Boulevard hin, Boulevard her, meinte Mathilde, wenn es den Menschen nur eine Lehre war. Vom Lernen hielt sie viel, wenn man es bewirkte. Vorbild sein, ein Beispiel geben hatte bei ihr etwas von der Wucht urchristlichen Zeugnisablegens. Sie entdeckte wie gesagt auch die Leute in meiner Straße neu, ja selbst die in meinem Haus lebten, die den Treppenaufgang mit mir teilten, auf demselben Absatz wohnten, mir gegenüber. Die Verständigung über sie gestaltete sich freilich schwierig, da ich nie wußte, von wem sie redete; Mathilde meinte, aus Bosheit, nur um die Unterhaltung zu hintertreiben und das, was sie an kommunikativer und sozialer Arbeit leistete, zu vernichten. Wurde nicht alles, was sie sich vertraut gemacht hatte, durch meine Begriffsstutzigkeit wieder fremd? Das war, wie soll ich sagen, eine zutreffende Unterstellung; denn wenn ich ihr auch zuhörte, wie gesagt nicht ohne Faszination, so sollte sie sich doch nicht einbilden, daß sie mich damit ködern oder gar zu ihrer Lebensform bekehren konnte. Zwar las ich beim Zahnarzt Die Bunte, und nicht ohne Beteiligung. Aber auch wenn es mir passierte, daß ich mich Stunden später noch mit dem Gelesenen beschäftigte, so schrieb ich darum noch lange keine Leserbriefe. (Sie schon.)

5

Es war unvermeidlich, daß sie sich hier und da nützlich machte. Sie kannte ja jeden, und ihr französischer Akzent trug Sonnenschein in manch elende Behausung. (Da sich alles in der Umgebung abspielte, hörte ich ihn an Tagen, wo ich später zur Arbeit ging, durch die geöffneten Fenster bis an meinen Schreibtisch). Wie ich ihren Erzählungen entnahm, bestand ihr besonderes Talent im Aufräumen. Dabei nahm sie sich vor allem der Gegenstände an, die bereits Monate, vielleicht Jahre nicht mehr angerührt worden waren, indem sie sie gewiß weniger mit Geschick als vielmehr mit Lebhaftigkeit von hier nach da rückte und damit den deprimierenden Eindruck beseitigte, sie wären samt und sonders auf dem Fernseher, der Anrichte festgewachsen, ein Abbild des desolaten Zustands ihrer Besitzer. Während sie so ein bißchen Ordnung machte, war sie nicht etwa stumm wie ein Fisch, sondern plauderte. Das wurde ihr hoch angerechnet, war doch genau dies der Hauptvorwurf an die Adresse der Pflegekräfte, die von den Sozialstationen geschickt wurden, daß sie den Mund nicht aufkriegten. Ich konnte mir die Unterhaltung vorstellen (und manchmal, wie gesagt, konnte ich sie auch hören). Wie bei ihren famosen Essenseinladungen bediente Mathilde ihre Klienten mit einer unaufhörlich strömenden Folge von Kommentaren, die in Wahrheit Selbstgespräche waren, denn genau wie beim Kochen sprach sie auch beim Aufräumen am liebsten über ihr eigenes Tun, vermittelte es sich selbst und damit den anderen, denen sie auf diese Weise unentbehrlich wurde, eine rechte Quelle von Leben.

So verbrachte sie fast täglich einige Stunden in der Nachbarschaft, und ich brauchte an schönen Tagen bloß die Ohren zu spitzen, um ihren Standort zu erlauschen oder vielmehr zu erfühlen; denn mit der Unfehlbarkeit des Allergikers (des Idiosynkratikers) wußte ich das Timbre ihrer Stimme, die quasi philosophische Modulation ihres Geplauders von anderen Geräuschen zu unterscheiden. Dieser Tonfall hatte es mir vor allem angetan. Schon recht bald nach Mathildes Ankunft hatte ich ihr deshalb den Prozeß gemacht. Mathilde verfertigt ihre Reden, aber sie denkt nicht, hatte ich im Geist resümiert, ohne zu bedenken, daß ich für diese Anklage keinen Richter und kein Publikum finden würde, daß ich sie niemandem als mir selbst vortragen konnte. Sie erledigte auch nichts und wenn ich noch so stolz auf sie war. Im Gegenteil, je öfter ich mir den Satz vorsagte, desto mehr verkörperte er das Verhaßte und wurde selbst zu einer Quelle von Unbehagen. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn ich mich meinem Freund Gabriel anvertraut und zu ihm gesagt hätte: Du, Mathilde denkt nicht. Oder, hör mal, was ich herausgefunden habe. Oder, weißt du schon und stell dir vor! Gabriel war ein gutmütiger Mensch, der den Sinn menschlicher Äußerungen nicht von vornherein in Zweifel zog. Ob ich Mathilde für unintelligent hielt, hätte er sich unsicher erkundigt. Immerhin hatte er mehrere Abende mit ihr verbracht, und ihm war nichts aufgefallen. Aber Mathilde war nicht dumm, und überhaupt gab es nur einen einzigen Beweis für Dummheit: wenn man jemand anders dafür hielt. Nur, von ihrer unzweifelhaft vorhandenen Intelligenz machte sie bösen Gebrauch. Sie räsonierte. Das sah gewaltig nach Denken aus, dabei redete sie nur, und mehr wollte sie auch nicht. Für sie war Reden ein eigenes Tun, man tat es zu keinem andern Zweck, etwas anderes wäre ihr wie Mißbrauch vorgekommen. Ebenso war Tun etwas anderes als Reden. Man redete, und es begab sich; daher die vielen Abenteuer. Auf eine merkwürdige Weise war sie direkter als andere. (Von mir ganz zu schweigen.)

Wenn ich einen Staubsauger hörte, wußte ich, das konnte nicht sie sein. Staubsaugen liebte sie nicht, wahrscheinlich weil man dabei den Mund halten mußte (sie behauptete, sie müßte davon niesen). Aber sie war sich nicht zu gut dafür, den Feudel zu schwingen, wie sie sich überhaupt für nichts zu gut war, vorausgesetzt, man ließ ihr ihre Entscheidungsfreiheit und sie konnte machen, was sie wollte. Wo es Anweisungen hagelte, da ging sie nicht mehr hin, und der Aggressor bezahlte seine Ansicht, er wäre Herr in seinem Haus, mit dem Verschwinden der Sonne, die ihm aufgegangen war. Aber wer in seine Abdankung einwilligte, wurde belohnt. Wie ein Gast durfte er sich fortan in seiner Wohnung fühlen, jedenfalls solange sie da war. War sie fort – und sie blieb nie lange und nie nur bei einem –, war er einsamer als zuvor, fast ein wenig fremd. Damit mußte er sich abfinden. Denn natürlich konnte er auch die Sachen nicht wieder an ihren alten Platz stellen, sie hätte es ja gemerkt. Allerdings hatte er eine Perspektive. Er war auf die Seite der Hoffnung gerutscht, freute sich auf Mathilde, sehnte sich nach ihrem Erscheinen. Während er im Lehnstuhl dahindämmerte, den sie energisch zum Fenster gerückt hatte (nicht damit er hinaus-, vielmehr ihr beim Aufräumen zusehen konnte), stellte er sich vor, wie es am nächsten Tag an seiner Tür kratzen würde, wenn sie den Schlüssel unter der Fußmatte hervorkramte, um ihn dann mit jener Ungeduld ins Schloß zu stecken, die auf Vertrautheit schließen ließ und ihm das Gefühl vermittelte, daß der triste Ort, an dem er sich befand, ein Zuhause war (wenn auch nicht seins). Bei dem Gedanken rappelte er sich unwillkürlich auf und guckte hinaus; vielleicht sah er noch, wie sie aus der Hintertür trat und mit ihrem ungleichen, so gar nicht graziösen, aber lebhaften Schritt den Hof überquerte, und die Sonne, die hier ohnehin nur stundenweise gastierte, ging ihm noch einmal unter. Morgen kommt sie wieder, sagte er sich.

So stellte ich mir die wundersame Wirkung von Mathildes Tätigkeit vor, und ihre Erzählungen bewiesen, daß ich mich nicht irrte. Abends überfiel sie mich bereits zwischen Tür und Angel mit Anekdoten aus dem Alltag ihrer Schützlinge, in Wirklichkeit Geschichten ihrer Erfolge, die mich schon längst nicht mehr täuschen konnten. Angestachelt von meiner Reserve, sparte sie nicht mit Andeutungen, wie sie in Zuneigung förmlich badete, wie sie Liebe gab und Liebe bekam.

Du warst nicht zu überhören, war dann alles, was ich sagte, und die hungrige Erwartung in ihrem Blick erlosch beziehungsweise wandelte sich in irritierte Feindseligkeit. Die ließ die Augen immer noch glänzen, aber ich dachte: Einmal bringt sie dich um, du wirst sehen, einmal bringt sie dich um.

6

Natürlich wurde Mathilde für diese Tätigkeiten entlohnt. Aber da die Bezahlung durch Zustecken geschah und der Lohn das Erwartete in der Regel überstieg (weil ihr Schützling, von ihrer Lebendigkeit bezaubert und beglückt von den jugendlichen Kräften, die sie aus ihm hervorlockte, ihr unbedingt etwas schenken mußte), da sie sich im Grunde über die Bezahlung eines von ihr schöpferisch, in eigener Regie, nach ihrem Gusto gestalteten Vor oder Nachmittags wunderte (tatsächlich fühlte sie sich in jeder dieser fremden Wohnungen mehr zu Hause als bei mir), da sie sich selbst also eher als beschenkt denn als bezahlt empfand und übrigens ihr eigenes Tun mit tönenden Worten als ein Schenken interpretierte, nahm ich ihre Tätigkeit nicht ernst und glaubte auch nie, daß sie mit Geld umgehen konnte oder welches hatte.

Um jeden Anschein zu vermeiden, daß ich mit ihr einen gemeinsamen Haushalt führte, hatte ich mich daran gewöhnt, mich auf der Faust zu ernähren. Ich kaufte nicht ein, hätte ich es doch für zwei tun und damit zugeben müssen, daß ich von ihrer Existenz wußte. Statt dessen frequentierte ich die Imbißbuden der Umgebung. Am Anfang kaufte ich wenigstens noch Brot, und Mathilde schnitt reichlich davon ab. Sie war ein häuslicher Mensch. Allein essen zu gehen (das Geld zum Fenster rauszuwerfen) kam ihr nicht in den Sinn. Wenn nichts im Haus war, aß sie eben nicht. Aber nachdem sie einmal gefragt hatte: »Ist kein Brot mehr da?« – tatsächlich hatte sie so reichlich davon gegessen, daß wir keins mehr hatten –, stellte ich das Kaufen ein und frühstückte fortan beim Bäcker. Für mittags ließ ich mir gleich zwei belegte Brötchen einpacken, auf denen mit Butter nicht gegeizt wurde, und nach der Arbeit machte ich beim Italiener oder Araber Station. Wenn mich spätabends der Hunger noch einmal überfiel, ging ich beim Inder oder Chinesen vorbei.

Auch wenn ich frei hatte, verließ ich das Haus. Sobald ich sicher sein konnte, daß Mathilde fortgegangen war, kehrte ich zurück und setzte mich an den Schreibtisch, der fatalerweise in ihrem (oder meinem) Zimmer stand. (Es war mir nach dem Auszug meiner Frau nicht gelungen, mich wie ein Teich über die ganze Wohnung zu verbreiten, sondern ich war mehr oder weniger in meinem Zimmer hocken geblieben.) Um die Mittagszeit aß ich die beiden Brötchen, die so lecker aufgepeppt waren, und erledigte dann, was es zu erledigen gab: Post, Bank, Schuhmacher und so weiter.

Muß ich erwähnen, daß einmal eins der beiden Sandwichs verschwand? Ich habe die Sache nie zur Sprache gebracht. Daß Mathilde hinter meinem Rücken nach Haus gekommen war, konnte ebensogut sein wie daß ich es in Gedanken gegessen hatte. Aber von da an kaufte ich nur noch eins, auch wegen dem Cholesterin, und war stets darauf gefaßt, es angebissen im Kühlschrank zu finden.

Wer nicht kocht, braucht nicht zu spülen. Wer nicht vom Brotlaib abschneidet, muß keine Krümel zusammenfegen. Meine Küche nahm das unbewohnte Aussehen an, das mir meine Frau bei ihrem Auszug vorausgesagt hatte. (Sie fand, ich trauerte nicht, wie es sich gehörte, und wollte mir den Verlust ihrer Person möglichst plastisch vor Augen rücken.) Deine Küche wird veröden, so pathetisch hatte sie sich ausgedrückt, woraufhin ich die ersten Monate fanatisch, die späteren immerhin noch gelegentlich kochte. Jetzt, wo wieder eine Frau im Haus war, wurde die Prophezeiung wahr. Manchmal kaute ich noch, wenn ich die Wohnung betrat, und für einen Moment hing der Duft von Gebratenem in der Luft. Mathildes Blick warf mir die Wahrheit förmlich an den Kopf: sie hatte Hunger. Dabei hatte sie Geld, aber für zu Hause hätte sie nie eingekauft, es sei denn, ich hätte ihr das Haushaltsportemonnaie in die Hand gedrückt. Sie war Gast in meinem Haus, und nichts und niemand würde ihr diesen Status nehmen, selbst wenn sie verhungerte.

Erst später kam ich darauf, daß sie sich bei ihren Klienten durchfutterte. Wie oft geschah es, daß das Mittagessen nicht angerührt oder nicht aufgegessen wurde. Aufgetaut wurde es immer, aber da der Appetit fehlte, streikten die alten Leute oder hatten tausend Ausreden. Mathilde war sparsam. Außerdem war sie mit einer geradezu religiösen Achtung vor dem Essen auf die Welt gekommen. Sie würde nicht im Abfalleimer verschwinden lassen, was die Patienten verschmähten, und wie alle guten Köchinnen fand sie die Qualität der Fertiggerichte erstaunlich.

Manchmal dachte ich, ein Greuel war ihr nur, was Geld kostete, einen Tauschwert besaß. Alles, was ihr von ihrer Großmutter überkommen war, hatte keinen. (Man konnte sich getrost darauf berufen.) Die alten Leute, die sie pflegte, gaben ihr keinen Lohn, nur Geschenke. Für meine Wohnung, mein Bett bezahlte sie keinen roten Heller. Andererseits fand sie es über die Maßen kränkend, daß ich ihr ein Äquivalent für ihre Anwesenheit verweigerte, sei es in Form von Unterhalt, Gesellschaft oder Liebe.

7

Obwohl sich bereits die ersten Monate in die Zeitrechnung einschlichen, bestand ich immer noch darauf, Mathildes Anwesenheit als kurzen Aufenthalt zu interpretieren. Klar, daß die Situation allmählich unhaltbar wurde.

So klar war das auch wieder nicht. Aber weil ich mich nicht änderte, änderte sich die Situation. Irgendwie mußte die Wahrheit schließlich ans Licht. Der Zeitrahmen verschob sich, und der Widerspruch zwischen den Tatsachen und meiner Interpretation wurde unübersehbar, zumal der eine oder andere Anspruch an mich herantrat. Die Verhältnisse pochten gewissermaßen auf Normalität und brachten mich in Zugzwang.

Ich geriet erkennbar ins Hintertreffen. Da ich Mathilde nicht brauchte, brauchte mich niemand mehr. (Früher hatte mich auch niemand gebraucht, aber da war es von mir ausgegangen.) Ich merkte es selbst vielleicht am stärksten: Dadurch daß ich Mathilde gegenüber keine – wie soll ich es nennen – Duldsamkeit aufbrachte, wurde ich unausstehlich. Meine Wohnung wurde unbewohnbar. Bald wohnt hier niemand mehr, dachte ich, wenn ich abends nach Hause kam (nicht nur Mathilde nicht).

Noch schlimmer war es, wenn Besucher sich hereindrängelten und den Blick über die zusammengeschobenen Polster mit dem darüber gebreiteten Schlafsack schweifen ließen und beim Karton verweilten, auf dem Pfeife, Brille, Buch und Aschenbecher ihren Platz hatten. Hatte der Kerl kein Bett? Mein Bruder, der im Auftrag meiner Mutter kam, war einfach entsetzt. Dabei konnte er gar nicht beurteilen, ob in der letzten Zeit ein Verfall eingetreten war. (Er imitierte die Sprache meiner Mutter, die die Amtssprache bevorzugte.) Er kam sonst nie und auch diesmal alles andere als freiwillig. Aber er begriff sofort, was los war, und ich ließ mich ins Bockshorn jagen von seinem sicheren Urteil, dem ein fester Schritt, ein ruhiger Blick korrespondierten.

Als würde ihm das Unbewohnte, gleichzeitig dauerhaft Unordentliche meiner Wohnung wie ein übler Geruch in die Nase steigen, durchmaß er das Wohnzimmer und machte nicht halt, bevor er nicht auf dem winzigen Balkon angelangt war. Wortlos betrachtete er den Baum, der seine Arme bis über den Balkon streckte.

Unsere Mutter sprach von Kommen, meinte er vorsichtig. (Immerhin sagte er »unsere«, sonst sagte er »meine«.)

Ah bon, sagte ich. (Mein Bruder konnte kein Französisch.)

Es ist nicht deinetwegen, sagte mein Bruder, jene unvermeidliche Floskel benutzend, die mich seit meiner frühesten Kindheit von der gefährlichen Illusion abgehalten hatte, daß etwas meinetwegen geschah. Unsere Mutter wollte eine langentbehrte Freundin besuchen und bei mir wohnen, oder vielmehr umgekehrt, bei mir wohnen und die Freundin besuchen. (So herum gehörte es sich.)

Noch nie in meinem Leben hatte ich meinem Bruder etwas erklärt. Entsprechend schwerfällig kamen mir die Worte aus dem Maul, jedes einzelne eine faustdicke Lüge:

Sie ist eigentlich kein Besuch.

Er warf mir einen Blick zu, der scharf wie ein angeschnittener Tischtennisball war. (Ich konnte meinen Bruder einfach nicht ernstnehmen.)

Ich habe sie nicht eingeladen, fügte ich hinzu.

Hast du etwas mit ihr?

Hätte ich nein gesagt, er hätte das Gegenteil geglaubt. So zuckte ich nur die Achseln. Wir Brüder hatten einander nie etwas anvertraut. (Kein Wunder, bei der Mutter.)

Mein Bruder verzichtete darauf, Mathilde kennenzulernen. Vielleicht hatte er Angst vor Frauen (und alle seine Hobbys waren echt).

Hals über Kopf reiste er ab und überließ mich meinem Schicksal.

8

Als Mathilde an dem Abend nach Hause kam, war ich emotional ausgehungert wie ein Frettchen und fand sie im Vergleich mit meinem Bruder geradezu vertraut.

Hast du Streß gehabt? (Ast du Streß ge-abt?) fragte sie und warf mir einen Blick zu, der mich an meine Mutter erinnerte: wenn ich als Kind erkrankt war und sie mich notgedrungen umsorgte. Bis ich wiederhergestellt war, blieben die mütterlichen Waffen gesenkt.)

Mein Bruder war da, sagte ich.

Bekam sie nachträglich einen Schreck? In meiner Bosheit hatte ich ihr nicht gesagt, daß Verwandtenbesuch ins Haus stand (und sie mit ihm zusammentreffen konnte). Ihr mußte klar sein, daß wir über sie geredet hatten. Während sie mit Opa Leutheuser oder mit Frau Landowski nichtsahnend um den Block spaziert war und danach eine gemütliche Teestunde mit ihnen verbracht hatte, hatte sie es mit zwei Gegnern statt mit einem zu tun gehabt, und ihre hiesige Existenz war womöglich ernsthaft in Frage gestellt worden.

Du hast einen Bruder? (Du ast ei-nön Bru-dör?)

In dem Moment sah sie so gottverlassen und rotnasig aus, daß es mir beinahe ans Herz griff.

Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Wo er doch dein Bruder (Bru-dör) ist.

Offenbar empfand sie ihn als eine Art Reichtum, selbst wenn er in unserer verfahrenen Situation ein Schachzug war, von mir mehr oder weniger aus dem Ärmel gezaubert, und ansonsten unwillkommen und lästig. Ich wunderte mich über ihre Anhänglichkeit. Hatte sie nicht selbst einen Haufen Geschwister, lebendige Beweise einer tadellosen katholischen Gesinnung, ansonsten samt und sonders mißraten und für sie nichts weniger als eine Beruhigung?

Ich würdigte sie keiner Antwort.

Warum ist er schon wieder weg (wie-dör wög)?

Ich schwieg, und in ihr Gesicht trat der untrügliche Ausdruck des Begreifens: Feindseligkeit.

Es war ihm pein-lisch, murmelte sie. Er dönkt, du ast etwas mit mir. (Was für ein himmlischer Akzent!)

Ich war urplötzlich zur Versöhnung geneigt. Vielleicht war ich für einen Augenblick Mathilde: vom Bahnhof geflüchtet und wieder auf dem Bahnhof gelandet. Bei einem Freund Zuflucht gesucht, dessen Wohnung einer Obdachlosenpension ähnlicher sah als einem Zuhause und in der sie seelisch immerzu fror.

Voyons, Mathilde, murmelte ich und setzte mich neben sie aufs Bett. Hatte er, der zum ersten Mal diese Formel aussprach, jener Inbegriff eines Ehemanns, nicht auch eine schier unbegreifliche Nachgiebigkeit an den Tag gelegt? Hatte er für die Verachtung, die er bekam, nicht Liebe gegeben und seine Frau ihn nicht auf ihre Weise geliebt, jedenfalls wenn sie etwas von ihm wollte? Warum sollte ich Mathilde in den Kopf hämmern, was offensichtlich nicht hineinging? Wenn sie nicht sah, was man allerdings nicht übersehen konnte, daß sie mir und meinem Bruder und allen, die nach ihm kommen mochten, das Bett wegnahm, war eben nichts zu machen. Sie darauf zu stoßen wäre gleichbedeutend damit gewesen, sie rauszuwerfen. (Nach meinem Verständnis jedenfalls, wenn das jemand mit mir gemacht hätte.) Wenn ich aber nicht wollte, daß sie ging, mußte ich mich ihrer ausschnitthaften Sicht der Dinge fügen, kurz all dem, was ich an ihr haßte.

Mathilde hatte alles andere als Maupassants Schulnovelle im Kopf. Womöglich hatte sie sie nicht einmal gelesen. (Sie zog populärphilosophische Reflexionen vor.) Als die schwächliche Matratze, vom Doppelgewicht überwältigt, nachgab und wir unwillkürlich aufeinander zurutschten, tat sie, wonach ihr zumute war: sie rückte weg. Väterlichkeit, oder was immer sie dafür hielt, mochte sie nicht.

Erschöpft vom Verwandtenbesuch, allein und auf abschüssiger Bahn – da Mathilde zwar weggerückt, aber keineswegs gewichen war –, hatte ich ein Blackout, einen Filmriß, bei dem, Gott sei gedankt, nicht ich, sondern bloß die Zeit schwarz wurde.

Als ich wieder zu mir kam, lag mein Kopf in ihrem Schoß, meine Füße hatten auf dem Kissen Platz gefunden, ihre Finger – überraschend weiße, rundliche Finger, die an die Fronleichnamssträuße und Kommunionkerzen ihrer katholischen Jugend erinnerten –, strichen mir mit behutsamer Leichtigkeit über den Kopf, und, wahrhaftig, sie schwieg.

Du ast gö-schla-fön, sagte sie, als ich mich unwillkürlich rührte, nahm aber die Finger nicht weg.

Ich wollte ihr sagen, daß ich ohnmächtig gewesen war, aber das klang zu dramatisch, obwohl ich mich partout an nichts erinnern konnte. So wühlte ich mich beruhigt ein wenig tiefer in ihren Schoß, wo es auf angenehme Weise nach nichts roch, weder nach ihren unzähligen Begegnungen noch nach meiner unbändigen Einsamkeit, weder nach gestern noch nach morgen, weder französisch noch deutsch, einfach nach nichts.


Weiter

Quelle: http://www.ilsebindseil.de/txt/txt4.html.
Der Gesamttext als PDF-Datei zum Download/Ausdruck

Zur Textübersicht

© Alle Rechte für diesen Text vorbehalten. Jegliche unautorisierte Nutzung ist untersagt. Autorisierung bedarf der Schriftform. Möchten Sie etwas nutzen oder fühlen Sie sich in Ihren Rechten verletzt, treten Sie bitte mit mir in Kontakt.